Die letzte Generation: Roman (German Edition)
Gedächtnis geben, und dieses Gedächtnis war auf irgendeine Weise unabhängig von der Zeit. Für dieses Gedächtnis waren Zukunft und Vergangenheit eins. Deshalb hatten die Menschen bereits vor Tausenden von Jahren ein verzerrtes Bild der Overlords durch einen Nebel aus Angst und Schrecken gesehen.
»Jetzt verstehe ich«, sagte der letzte Mensch.
Der letzte Mensch! Für Jan war es sehr schwer, sich so zu sehen. Als er in den Weltraum aufgebrochen war, hatte er die Möglichkeit der ewigen Verbannung von der Menschheit in Kauf genommen, und die Einsamkeit hatte ihn noch nicht überwältigt. Im Laufe der Jahre würde ihn vielleicht die Sehnsucht nach einem anderen menschlichen Wesen überkommen, aber vorläufig hinderte ihn die Gesellschaft der Overlords daran, sich völlig einsam zu fühlen.
Noch vor zehn Jahren hatte es Menschen auf der Erde gegeben, aber sie waren degenerierte Überlebende gewesen, und Jan hätte nichts gewonnen, wenn er ihnen begegnet wäre. Aus Gründen, die die Overlords nicht erklären konnten, die Jan aber auf psychologischem Gebiet vermutete, waren keine Kinder mehr geboren worden, die die Fortgegangenen ersetzt hätten. Der Homo sapiens war ausgestorben.
Vielleicht lag in einer der noch erhaltenen Städte das Manuskript eines späten Gibbons, der über die letzten Tage der Menschheit berichtete. Doch Jan war sich nicht einmal sicher, ob er sich die Mühe machen würde, es zu lesen. Rashaverak hatte ihm bereits alles erzählt, was er wissen wollte.
Die Menschen, die nicht selbst aus der Welt geschieden waren, hatten in zunehmend fieberhaften Tätigkeiten Vergessen gesucht, in wildem und selbstmörderischem Sport, der oft nicht von kleineren Kriegen zu unterscheiden war. Da die Bevölkerung rasch abnahm, hatten sich die alternden Überlebenden zusammengerauft, eine geschlagene Armee, die ihre Reihen fester schloss, als sie ihren letzten Rückzug antrat.
Dieser Schlussakt, ehe sich der Vorhang für immer senkte, musste von aufflammendem Heldentum und Aufopferung erhellt und von Grausamkeit und Selbstsucht verdunkelt worden sein. Ob er in Verzweiflung oder Ergebung geendet hatte, würde Jan nie erfahren.
Es gab vieles, was seinen Geist beschäftigte. Der Stützpunkt der Overlords lag etwa einen Kilometer von einer verlassenen Villa entfernt, und Jan arbeitete mehrere Monate daran, sie mit Dingen auszustatten, die er aus der etwa dreißig Kilometer entfernten nächsten Stadt holte. Er war mit Rashaverak hingeflogen, dessen Freundschaft er für nicht ganz selbstlos hielt. Der Psychologe studierte immer noch das letzte Exemplar des Homo sapiens.
Die Stadt musste vor dem Ende geräumt worden sein, denn die Häuser und viele der öffentlichen Einrichtungen waren nach wie vor in gutem Zustand. Es hätte wenig Mühe gemacht, die Generatoren wieder in Betrieb zu setzen, sodass die breiten Straßen noch einmal in der Illusion des Lebens erstrahlt wären. Jan spielte mit diesem Gedanken, dann verwarf er ihn als zu morbid. Er wollte seine Tage auf keinen Fall damit verbringen, über die Vergangenheit nachzugrübeln. Hier gab es alles, was er brauchte, um sich für den Rest seines Lebens zu versorgen, aber das größte Verlangen hatte er nach einem elektronischen Klavier und diversen Bach-Transkriptionen. Für die Musik hatte er nie so viel Zeit gehabt, wie er sich gewünscht hätte, und jetzt wollte er sich dafür entschädigen. Wenn er nicht selbst spielte, ließ er Aufzeichnungen von den großen Symphonien und Konzerten ablaufen, sodass es in der Villa nie still war. Die Musik war sein Talisman gegen die Einsamkeit geworden, die ihn eines Tages zweifellos überwältigen würde.
Häufig unternahm er lange Wanderungen über die Hügel und dachte über alles nach, was in den wenigen Monaten, seit er die Erde zuletzt gesehen hatte, geschehen war. Als er sich vor achtzig irdischen Jahren von Sullivan verabschiedete, hätte er nie gedacht, dass bereits die letzte Generation der Menschheit gezeugt worden war.
Was für ein junger Narr war er doch gewesen! Und dennoch war er sich nicht sicher, ob er seine Haltung bereute. Wäre er auf der Erde geblieben, hätte er die letzten Jahre miterlebt, über die nun die Zeit einen Schleier gezogen hatte. Stattdessen hatte er sie mit einem Hechtsprung in die Zukunft überwunden und auf seine Fragen Antworten erhalten, von denen kein anderer Mensch je erfahren würde. Seine Wissbegier war fast befriedigt, doch bisweilen fragte er sich, warum die Overlords noch
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