Die letzte Lagune
Einbruch
steckt?»
Diesmal sah die
Contessa Tron an wie einen hinterhältigen Erstklässler.
Dann schüttelte sie den Kopf, und ihre Miene drückte
ungläubiges Entsetzen darüber aus, dass der Herr sie mit
solch einem Sohn geschlagen hatte. «Wer sollte es sonst
gewesen sein, Alvise?»
Natürlich, Bill
Marchmain, Inhaber der Boston Glass Inc und schärfster
Konkurrent der Contessa. Marchmain hatte vor zwei Jahren sogar eine
Kopie der gläsernen Gondel produziert - allerdings ohne
großen Verkaufserfolg. Vermutlich, dachte Tron, wollten weder
Amerikaner noch Europäer Glas kaufen, das in Boston produziert
wurde. Sie bevorzugten Glas, das aus Venedig kam - mit der
Einprägung Made in Venice am Fuß. Kein
Wunder also, dass Marchmain, der seit einem halben Jahr am
Canalazzo residierte, daran dachte, Teile seiner Produktion nach
Italien zu verlagern. Kein Wunder auch, dass die Contessa Marchmain
verabscheute. Tron bezweifelte jedoch, dass der Amerikaner so weit
gehen würde, einen Dieb in den Palazzo Tron zu
schicken.
Er tunkte ein
steinhartes baicolo in seinen lauwarmen
Tee.
Nachdem er es
hinuntergewürgt hatte, sagte er: «Und was erwartest du
von mir?»
Die Antwort der
Contessa kam sofort, begleitet von einem wütenden Schlag mit
der Hand auf die gepolsterte Sessellehne. «Dass du den
Burschen verhaftest.»
Tron lächelte
matt. «Das kann ich nicht.»
«Und warum
nicht?»
«Weil wir keine
Beweise haben.»
«Wer sollte
sonst ein Interesse daran haben, den Pokal zu stehlen? Das Ding ist
wertlos. Der einzige Mensch in Venedig, für den dieses Glas
einen Wert besitzt, ist Marchmain.»
«Das beweist
noch lange nicht, dass Marchmain hinter diesem Einbruch
steckt», sagte Tron. «Es wäre auch denkbar, dass
es sich um einen ...»
Er brach den Satz
ab. Was wäre auch denkbar? Dass es
sich um einen Zufall handelte? Dass jemand
zufällig die Leiter an den Palazzo Tron gelegt und
zufällig die sala betreten hatte? Dort zufällig
den Pokal entdeckt und sich gesagt hatte: He, tolles Glas. Sieht echt
antik aus. Ist bestimmt ein Vermögen wert. Nehm ich doch mal
mit. Nein,
so konnte es kaum gewesen sein. Es ergab alles keinen Sinn. Dieser
Einbruch war völlig rätselhaft.
«Was hast du
also vor?» Der Tonfall der Contessa drückte erhebliche
Zweifel daran aus, dass jemand wie er etwas Sinnvolles Vorhaben
könnte.
Tron stand auf. Sein
linkes Bein war eingeschlafen (oder erfroren), und er hatte
Schwierigkeiten, aufrecht zu stehen. «Ich könnte
Marchmain morgen Vormittag einen Besuch abstatten», sagte
er.
Bossi hatte die
Unterhaltung zwischen Tron und der Contessa mit mäßigem
Interesse verfolgt. Tron war aufgefallen, dass der Ispettore sogar
zweimal ein Gähnen unterdrücken musste. Als sie gemeinsam
die Treppe hinunterstiegen, summte Bossi mit verklärter Miene
eine schwermütige Melodie. Dann verabschiedete er sich
eilig.
*
«Ich glaube
nicht», sagte die Principessa eine halbe Stunde später,
«dass Marchmain hinter dem Einbruch steckt.»
Tron hatte den Weg
zurück zum Palazzo Balbi-Valier im Laufschritt
zurückgelegt. Die Kälte, die vom gefrorenen Canalazzo in
seine Beine strömte, schien mit jedem Schritt zuzunehmen. Ob
venezianisches Eis besonders kalt war? Nein, das konnte schlecht
sein. Jedenfalls war es ein herrliches Gefühl, sich wieder in
einem warmen Raum aufzuhalten.
Tron trank einen
Schluck Tee und sah die Principessa an. «Kennst du
Marchmain?»
«Flüchtig», sagte
die Principessa. «Er ist mir mal im Florian vorgestellt
worden. Typischer Amerikaner. Glatt rasiert, um die fünfzig.
Spricht gut Italienisch.»
«Warum bist du
dir so sicher, dass er mit dem Einbruch nichts zu tun
hat?»
«Weil die ganze
Geschichte keinen Sinn ergibt. Wenn Marchmain tatsächlich die
Absicht hat, bei der Contessa abzukupfern, dann bringt er seine
Kopien eben ein paar Monate später auf den Markt.
Pressglasformen sind leicht herzustellen. Dieser Einbruch ist
nichts weiter als ein dummer Zufall. Was meint Bossi
dazu?»
«Ungefähr
das, was du sagst. Dass es sich um einen albernen Zufall handelt.
Und dass es wichtigere Dinge gibt.»
Die Principessa
lachte. «Zum Beispiel Signorina Belli? Seine
Verlobte?»
Tron nickte.
«Sie hat ihn mit ihrer Passion für Wagner regelrecht
angesteckt. Bossi redet nur noch über die Lohengrin- Premiere.
Summt ständig Wagner-Melodien.»
«Wann findet die
Premiere statt?»
«In zehn Tagen.
Es ist die erste Aufführung der Oper in Italien. Das Fenice
ist bereits ausverkauft.»
«Ist
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