Die letzte Lagune
blieb am Ende der Planke
stehen, drehte sich um und rief mit erstaunlich klarer und lauter
Stimme: Das Glas wird dir Unglück bringen, Dandolo. Danach
ließ er sich seitlich ins Wasserfallen.
Ich habe keine
Ahnung, was er mit «Glas» gemeint haben könnte.
Die Dandolos sind stark im Glashandel engagiert. Natürlich
wollen sie expandieren, und Dandolo wird diesen Kreuzzug dazu
benutzen, neue Geschäftskontakte im Osten anzuknüpfen.
Aber das sollte Pater Francesco und der Kirche eigentlich egal
sein. Später sagte mir Cavalli, der neben dem Dogen stand,
dass Dandolo aschfahl geworden sei. Werde das Gefühl nicht
los, dass der Pater unschuldig war. Dass diese Hinrichtung dem
Papst gefällt, bezweifle ich. Aber Innozenz ist auf den Dogen
angewiesen.
Kleiner - nein
-großer Lichtblick am Abend. Völlig überraschend
Lucia auf der Poop begegnet. Sie stand, dem Aufgang den Rücken
zukehrend, an der Reling. Als sie sich umdrehte, trafen sich unsere
Blicke. Bilde mir ein, dass sie mir ein kleines Lächeln
geschenkt hat, aber es ging alles so schnell. Sie hat die Poop
sofort hastig verlassen.
Danach,
glücklich und beschwingt, den Deppen aus Chioggia (sie wollten
tatsächlich ihre Revanche) wieder einiges Geld abgenommen. Bin
fest entschlossen, mich morgen wegen des Seneca persönlich an
Dandolo zu wenden. Lass mir schließlich nicht alles gefallen.
Beim Einschlafen an Lucia gedacht.
10.10.
Dandolo hat mich
rufen lassen! Wurde von einem der balestrieri gleich nach dem
Frühstück barsch aufgefordert, ihm zu folgen.
Einen Moment lang dachte ich, ich
würde verhaftet werden - fühle mich immer irgendwie
schuldig. Kein Wunder, bei meinen Schulden.
Doch der Doge
empfing mich ausgesprochen freundlich. Er stand nicht auf, um mich
zu begrüßen, gab mir aber sitzend die Hand. Hatte vor
sich, auf einem Tisch, meinen Seneca liegen, darauf ein
großes Brennglas, damit er die Schrift erkennen konnte. Er
ist ja fast blind. Dandolo selber, auch seine schlichte Kabine
(allerdings riesig) unter der Poop, völlig
unprätentiös, er spielt sich nicht als Doge auf.
Angenehmer, dunkler Bariton, sparsame, vornehme
Gesten.
Dann anregendes
Gespräch über die Epistulae Morales. Erstaunlich, dass
ein Mann in solcher Position sich die Zeit nimmt, die Klassiker zu
lesen. Sprachen über den zweiten Brief (Tongeschirr so
behandeln, als wäre es aus Silber), den ich gerade gelesen
hatte und deswegen einen guten Eindruck machte. Blieb über
eine Stunde in der Kabine des Dogen, ohne dass konkret über
meine Aufgabe an Bord gesprochen wurde. Was wollte Dandolo? Mir auf
den Zahn fühlen? Wenn das alles eine Art Prüfung war,
dann habe ich sie, denke ich,
bestanden.
Habe das nicht
konkret zu begründende Gefühl, dass hinter diesem
Unternehmen etwas steckt, das vielleicht nur Dandolo selber
weiß. Hatte Pater Francesco ein Geheimnis herausgefunden?
Musste er deshalb sterben? Was, zum Teufel, hat es mit dem Glas auf
sich?
Es klart auf Die
Berge an Backbord deutlicher. Wind ist aufgekommen, die
Segelschiffe hinter uns rücken auf. Hoffe, im Laufe des Tages
noch Lucia zu sehen.
9
«Möchten
Sie einen Glühwein, Signora?»
Das blonde
Mädchen auf den Fondamenta Nuove war höchstens vierzehn.
Sie stand neben einem kleinen Kessel, unter dem ein Holzkohlenfeuer
glimmte. Auf einem Schild war in ungelenken Buchstaben ZWEI
CENTIMES zu
lesen. Ihre Kunden waren Leute, die den gestreuten Pfad benutzten,
der über das Eis zur Friedhofsinsel San Michele
führte.
Als die Dame im
Pelzmantel, die kurz stehen geblieben war, nicht antwortete und nur
einen irritierten Blick auf den Kessel und die Gläser warf,
wiederholte das Mädchen ihre Frage. «Möchten Sie
einen Glühwein, Signora?»
Das war ein Fehler,
wie das Mädchen sogleich feststellte. Die Dame im Pelzmantel
holte ruckartig Luft durch die Nase. Dann maß sie das
Mädchen mit einem Blick, der eine Uhr zum Anhalten gebracht
hätte.
«Hör gut
zu, Herzchen», sagte die Dame schwungvoll. Ihre Miene war
wütend und fröhlich zugleich. «Ich bin nicht zu
meinem Vergnügen unterwegs. Um deinen Glühwein zu
trinken, müsste ich mir die Handschuhe ausziehen, und dann
würden mir die Finger abfrieren. Außerdem sieht dein
Glühwein wie aufgewärmte Pferdepisse aus. Noch
Fragen?»
Das Mädchen war
während dieser Ansprache unwillkürlich
zurückgewichen. «Nein», war das Einzige, was sie
herausbrachte. Ihre Augen waren glasig geworden. Diese Wirkung
hatte die Dame im Pelzmantel häufig auf
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