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Die letzte Lagune

Die letzte Lagune

Titel: Die letzte Lagune Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicolas Remin
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durch die Fenster zum Canalazzo und schien
alle Farben im Raum getilgt zu haben. Wie in einer Kirche roch es
nach Weihrauch.      
    Der Sarg von
Marchmain, schwarz und offen, stand direkt unter einem Kronleuchter
aus Muranoglas, dessen weißliche Wachskerzen man durch
schwarze Kerzen ersetzt hatte. Neben dem Sarg war ein kleiner Tisch
postiert worden, auf dem ein aufgeschlagenes Buch mit leeren Seiten
lag - das Kondolenzbuch, in das die Trauergäste sich eintragen
konnten, nachdem sie einen letzten Blick auf Marchmain geworfen
hatten. Tron wusste nicht, wann Dr. Lionardo die Leiche freigeben
würde. Der medico legale hatte allerdings im
Fenice angedeutet, dass die Sektion nicht viel ergeben würde.
Woraus zu schließen war, dass die Leiche von Marchmain sehr
bald, vielleicht bereits heute Abend, in den Palazzo Zafon
überführt werden konnte.
    Tron trat neben den
Sarg und betrachtete, wie jedes Mal, wenn er die Gelegenheit dazu
hatte, dessen Inneres mit einer gewissen morbiden Befriedigung. Da
lag man also, wenn der Lebensfaden zu Ende gesponnen war - durchaus
bequem, denn der Sarg war mit einer Polsterung aus weißem
Satin versehen worden und erinnerte Tron immer an ein Coupé
erster Klasse. Das Weiß der Polsterung war der einzige helle
Farbton im Raum. Die zahlreichen, in die Wände eingelassenen
Spiegel hatte man mit schwarzen Tüchern verhängt;
über die Sessel, denen die sala Marchmains die plüschige
Foyer-Atmosphäre verdankt hatte, waren schwarze Decken
gebreitet worden. Auch das Sofa, aus dessen Tiefe sich Holly Parker
und Lime bei seinem letzten Besuch erhoben hatten, war mit einem
riesigen Tuch aus schwarzem Samt bedeckt, was allerdings, fand
Tron, der ganzen Trauerdekoration einen ungewollten Einschlag ins
Erotische gab. Jedenfalls war die Schnelligkeit erstaunlich, mit
der die Hinterbliebenen umdekoriert hatten - sie mussten ganze
Scharen von dienstbaren Geistern bereits in den frühen
Morgenstunden angeleitet und angetrieben haben. Unübersehbar
war das Bemühen, nichts falsch zu machen, um nicht durch
nachlässige Handhabung der Trauer- und Bestattungsrituale
zusätzlichen Verdacht auf sich zu laden.
    Zusätzlichen
Verdacht? Gab es denn bereits einen
Verdacht, der sich auf Holly Parker oder Peter Lime richtete? Oder
auf Sebastian Flyte? Und wo steckte der eigentlich? Flyte war als Neffe
von Marchmain der einzige männliche Verwandte in Venedig. Da
war doch zu erwarten, dass er nach dem Tod seines Onkels die Dinge
in die Hand nahm. Und auf wen, überlegte Tron weiter, wartete
er eigentlich? Das Dienstmädchen hatte ihm gesagt, dass
der Signore und die Signorina gleich kommen
würden. Aber hatte sie damit Flyte oder Lime gemeint? Oder
würden sich alle drei hier einfinden? Mühsam die
Contenance bewahrend?
    Diese Frage wurde erst
gute fünf Minuten später beantwortet, als sich die
Tür zum Vestibül schließlich öffnete und Holly
Parker die sala betrat. Ihr folgte Lime, der
höflich hinter ihr zurückblieb. Von Flyte war nichts zu
sehen. Holly Parker trug ein schlichtes Kleid aus schwarzem
Wollstoff, und Lime hatte ein schwarzes Trauerband am Ärmel
seines braunen Gehrocks befestigt. Es war nicht
übermäßig hell in der sala, aber das Licht reichte, um Holly
Parkers rotgeweinte Augen zu erkennen. Lime, der einen halben
Schritt hinter ihr stehen geblieben war, sah aus wie jemand, der
vor Wut kochte und die größte Mühe hatte, seine
Erregung in Schach zu halten. Da es unwahrscheinlich war, dass
Holly Parker den Tod ihres Onkels beweint hatte, vermutete Tron,
dass sich die beiden gerade gestritten hatten. Vielleicht wegen
Flyte? Tron kannte Marchmains Testament nicht, aber
möglicherweise hatte der Kampf um die Beute bereits
begonnen.
    «Ich hatte
erwartet, auch Dr. Flyte hier anzutreffen», sagte er, nachdem
er eine Beileidsformel gemurmelt hatte.
    Als der Name Flyte
fiel, holte Lime tief Luft. Dann schloss er die Augen und schaffte
es, keine Miene zu verziehen. Holly Parker putzte sich ausgiebig
die Nase.
    «Dr.
Flyte», sagte sie schließlich, nachdem sie ihr
Taschentuch wieder in ihrem Ärmel verstaut hatte, «ist
heute Vormittag bei uns gewesen. Aber er musste ins Ognissanti, um
die Überführung der Leiche zu veranlassen.» Sie
machte eine Handbewegung in Richtung des Sarges, so als wäre
es nötig, Tron darauf hinzuweisen, dass dieser Sarg hier nicht
zufällig stand.
    Lime trat neben Holly
Parker, und einen Moment lang dachte Tron, dass er seinen Arm
schützend um ihre Schultern legen

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