Die letzte Lagune
keinen Teelöffel, sondern gleich eine Suppenkelle
zu benutzen? Also auf diese Art und Weise aus sechs Seiten
zwölf Seiten zu machen? Und sollte er die Tagebücher
nicht vielleicht zweisprachig veröffentlichen? Auf Italienisch
und auf Englisch? Mit einem Interview mit Dr. Flyte in der ersten
Nummer? Und einem brillanten Essay des Herausgebers des Emporio della
Poesia, Alvise Tron? Dem weit über
die Grenzen Italiens hinaus bekannten komme de lettres, der mit der
sensationellen Veröffentlichung der Tagebücher einen Coup
...
«Worüber
denkst du nach, Alvise?»
Tron schlug die Augen
auf und hob den Kopf. Die Principessa hatte sich auf ihrer
Recamiere aufgerichtet und sah ihn besorgt an. «Ist alles in
Ordnung mit dir?»
Großer Gott,
hatte er womöglich vor sich hin gemurmelt? Tron räusperte
sich nervös. «Ich frage mich, was mit den
Tagebüchern geschieht, wenn ich Flyte verhaften muss»,
sagte er.
«Dann werden wir
auf die Fortsetzungen eine Weile verzichten müssen»,
sagte die Principessa.
Tron nickte.
«Wobei ich natürlich die Gefahr sehe, dass die
Tagebücher für lange Zeit unzugänglich sein
könnten. Wir also möglicherweise nie erfahren werden, was
genau es mit dem Glas und dem Sonderauftrag für eine
Bewandtnis hatte.»
«Wo werden die
Tagebücher landen?»
Tron zuckte die
Achseln. «Ich glaube nicht, dass sie hier in Venedig bleiben
werden. Vermutlich werden sie in die Hofbibliothek
überführt, wenn Flyte sie nicht mehr bearbeiten
kann.»
«Sagtest du
nicht, Contarini sei davon überzeugt, dass die Tagebücher
der Kirche gehören, weil sie ursprünglich in der
Bibliothek von San Lazzaro aufbewahrt wurden?»
«Ja, sicher.
Aber Lodron ist vom Gegenteil überzeugt. Er hält die
Ansprüche der Kirche für unberechtigt.»
«Rein juristisch
dürften die Tagebücher der Marciana gehören»,
sagte die Principessa. «Wenn man erst mal damit anfängt,
den Kirchenbesitz, den Napoleon verstaatlicht hat, der Kirche
zurückzugeben, macht man ein Fass ohne Boden auf. Das sollte
Contarini eigentlich klar sein.»
«Es geht nicht
um Dutzende von Klöstern, sondern nur um ein paar alte
Pergamentseiten», sagte Tron. «Und Contarini kann sich
wohl nicht vorstellen, dass Franz Joseph deswegen einen ernsthaften
Streit mit Rom anfangen wird. Der Kaiser hat nicht sehr viele
Verbündete. Und er würde wegen eines Manuskripts keinen
Konflikt mit dem Vatikan riskieren. Außerdem weiß
niemand, ob es die Tagebücher wirklich wert
sind.»
«Also? Was wirst
du tun?»
«Ich würde
Flyte ungern verhaften.»
«Wie geht es
jetzt weiter?»
«Wir lesen
weiter», sagte Tron.
«Wo sind
wir?»
Tron überflog den
ersten Absatz. «Die Aufzeichnungen machen einen Sprung in den
März des Jahres 1204. Oder die Eintragungen dazwischen sind
verschwunden. Wir sind im Marmarameer.»
«Marmarameer?»
«Zweigt
nördlich ab vom Mittelmeer, und vom Marmarameer wiederum
zweigt das Goldene Horn ab.»
«Die Bucht, an
der Konstantinopel liegt?»
Tron nickte.
«Der Zugang zur Bucht wurde durch die berühmte eiserne
Kette gesichert. Ein Ende war am Ufer der Stadt befestigt, das
andere auf der gegenüberliegenden
Galata-Festung.»
«Dann
lies.»
33
6.3.
Heute früh zum
ersten Mal die Mauern von Byzanz in der Ferne gesehen. Sind in der
Nähe der St.-Stephanus-Abtei vor Anker gegangen, sechs
Seemeilen vor der Stadt im Marmarameer. Dandolo will die Flotte
hier sammeln, bevor wir uns in die strömungsstarke Meerenge
des Bosporus wagen. Von den Mauern, den Kuppeln und Türmen von
Byzanz war nur ein Schimmer am Horizont zu erkennen, aber jeder
weiß, dass diese Stadt mit allen Reichtümern der Welt
gefüllt ist. Und auch, dass wir nicht die Ersten sind, die ihr
Glück versuchen. Pater Ignazio, der neben mir auf Deck stand,
erwähnte Sarazenen, Bulgaren, Russen und Avaren. Alle sind an
diesen Mauern kläglich gescheitert - ein riesiger, doppelter
Mauerring, der zusätzlich durch hölzerne Türme vor
den Mauern gesichert ist. Dann macht es die schnelle Strömung
des Bosporus einem Landungsboot fast unmöglich, am Ufer
anzulegen. Dazu kommen zahllose Klippen und Untiefen, die ohne
genaue Ortskenntnisse zur tödlichen Falle werden. Hörte
sich nicht sehr optimistisch an. Dann erwähnte der Pater noch,
dass Dandolo hier vor dreißig Jahren aus unklaren
Gründen sein Augenlicht verloren hat. Entweder durch eine
Krankheit oder weil er mit einem Brennglas geblendet wurde.
Jedenfalls hasst der Doge die Stadt. Das erklärt
Weitere Kostenlose Bücher