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Die letzte Lagune

Die letzte Lagune

Titel: Die letzte Lagune Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicolas Remin
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dass der mit einem stumpfen Gegenstand ausgeführte
Schlag auf Flytes Stirn nicht tödlich gewesen war, wohl aber
der Schuss ins Auge, bei dem das Projektil sofort ins Gehirn
gedrungen war. Der Täter hatte eine Derringer benutzt, und
damit folgte auch dieser Mord dem Muster des Mordes an
Petrelli.
    Tron stand auf und
trat ans Fenster. Heute Morgen hatte es geschneit, aber jetzt war
die Wolkendecke aufgerissen, und eine matte Wintersonne schien auf
den Campo vor der Questura. Tron fiel auf, dass der kleine
Gemüseladen auf der anderen Seite des Rio di San Lorenzo nicht
mehr geöffnet hatte. Die Fensterläden waren geschlossen,
und auch die hölzernen Stände vor dem Laden, auf denen
der Händler sein Gemüse und sein Obst auslegte, waren
verschwunden. Brennmaterial wurde mit jedem Tag knapper, und wer
Holz besaß, war peinlich darauf bedacht, es in Sicherheit zu
bringen. Hölzerne Brückengeländer verschwanden
über Nacht, und vor ein paar Tagen hatten sich Diebe an der
Riva degli Schiavoni über einen griechischen Lastsegler
hergemacht. Sie hatten in einer nächtlichen Aktion den
Hauptmast und sämtliche Rahen zersägt und
abtransportiert.
    Auch war
unübersehbar, dass die Versorgung der Stadt mit Lebensmitteln
immer schwieriger wurde. Da die meisten Güter mit Lastseglern
nach Venedig gebracht wurden und der Seeweg seit drei Wochen durch
das Eis versperrt war, hatte die Militärverwaltung versucht,
die Engpässe durch Eisenbahntransporte zu kompensieren. Aber
die Kapazitäten reichten nicht aus. Viele ältere
Venezianer (zu denen sich Tron rechnete) fühlten sich an die
Zeit der österreichischen Belagerung erinnert, als die Stadt
den vergeblichen Versuch gemacht hatte, das fremde Joch
abzuschütteln. Selbst für das Backen von Hostien war kein
Mehl mehr vorhanden gewesen, und es wurde öffentlich
darüber nachgedacht, ob man nicht notfalls auch Ratten in den
Kochtopf stecken könnte. An Kuchen durfte damals niemand
denken. Momentan stellte Tron jedoch zu seiner Erleichterung fest,
dass sich das Kuchenangebot im Florian nicht verschlechtert hatte.
Die drei Biskuitrollen und die leckere torta di mele, die er heute Morgen
verspeist hatte, waren ausgezeichnet gewesen. Dass die Preise
kräftig angezogen hatten, konnte ihm egal sein. Den
Commissario von San Marco im Café Florian bezahlen zu lassen
war nie üblich gewesen.
    Tron wandte sich vom
Fenster ab und nahm wieder an seinem Schreibtisch Platz. Er zog das
Tagebuchfragment aus der Schublade und begann zu lesen. Als er an
die Stelle gekommen war, an der von dem Kelch die Rede war, hielt
er inne. Der
Kelch schien plötzlich zu schimmern hatte Zanetto Tron geschrieben.
Für einen notorischen Konsumenten von Groschenromanen wie
Ispettore Bossi war das natürlich ein gefundenes Fressen. Ein
Glas mit magischen Eigenschaften war fast so gut wie ein Einhorn
oder dieses Unterseekabel, das man vor fünf Jahren zwischen
Europa und der amerikanischen Ostküste verlegt hatte und von
dem der Ispettore gerne mit leuchtenden Augen sprach. Andererseits,
musste Tron zugeben, hatte die Vorstellung eines schimmernden
Glases etwas Faszinierendes. Die Contessa würde jede
gewünschte Summe für das Fabrikationsgeheimnis bezahlen.
War es das, was Dándolo und der Papst wollten? Ging es um
Geld? Wahrscheinlich, dachte Tron. Es ging - auch damals schon -
immer um Geld.
    Kurz vor zwölf
erschien Ispettore Bossi, der sich verwundert darüber zeigte,
dass Tron immer noch nicht mit Spaur gesprochen hatte.
Schließlich wurde es halb zwei, als Sergente Kranzier endlich
an Trons Tür erschien und ihm mitteilte, dass ihn der
Polizeipräsident in seinem Büro erwarte.
    *
    Johann Baptist Baron
von Spaur, die Halsbinde jovial gelockert, saß hinter seinem
Schreibtisch und bot das Bild eines Mannes, der mit sich und der
Welt im Reinen war. Die Akten, die vorgestern noch auf seinem Tisch
gelegen hatten, waren verschwunden. Stattdessen stand eine
geöffnete Schachtel Demel-Konfekt vor ihm, daneben eine
duftende Tasse Kaffee. Als Tron sein Büro betrat, strahlte
Spaur.
    «Ich gratuliere,
Commissario», sagte er. «Contarini hat unseren
Vorschlag akzeptiert. Die Bigamie-Geschichte ist vom Tisch, und er
verlässt Venedig. Er hatte gestern Nachmittag
überraschenden Besuch aus Rom und hielt es für eine Frage
christlichen Anstands, mich sofort in Kenntnis zu setzen.»
Spaur lächelte. «Die Baronin und ich waren gerade beim
Dessert, als das Mädchen den Monsignore gemeldet hat. Er hatte
sich trotz des

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