Die letzte Lagune
haben
ja auch Lime und Holly Parker ein Motiv», sagte Tron.
«Aber wir wissen weder besonders viel über Marchmain
noch über die Verhältnisse im Palazzo Zafon.» Tron
richtete sich auf. «Mir ist aufgefallen», fuhr er fort,
«dass eine ganze Reihe von Personen während der
Vorstellung verschwunden sind.»
«Wer ist alles
verschwunden?», fragte Bossi.
«Marchmain,
Flyte, dieser Peter Lime, Holly Parker, Contarini und Lodron. Und
Marchmain empfing, bevor er seine Loge verließ, noch einen
kurzen Besuch von Holly Parker. Zum Schluss hat sie ihm einen
Schlag mit dem Fächer versetzt und ist aus der Loge
gerauscht.»
«Sie hatten
Streit?»
Tron nickte.
«Offenbar.»
«Wo war Lime zu
diesem Zeitpunkt?»
«Er war
jedenfalls anschließend nicht mehr im Parkett», sagte
Tron.
«Und wann ist
Marchmain verschwunden? Unmittelbar danach oder irgendwann
später?», wollte Bossi wissen. «Können Sie
genauer sagen, wann sich das alles abgespielt
hat?»
Tron hob die
Schultern. «Nein, Bossi. Ich hätte mir Notizen machen
müssen, aber dafür gab es nicht den geringsten Anlass.
Außerdem habe ich gleichzeitig die Oper verfolgt und mich mit
der Principessa unterhalten. Contarini ist übrigens irgendwann wieder in
seiner Loge aufgetaucht und schien sich körperlich angestrengt
zu haben.»
Bossi machte ein
skeptisches Gesicht. «Das war aus fünfzig Schritt
Entfernung zu
erkennen?»
«Das Opernglas
der Principessa ist ausgezeichnet», sagte Tron. «Man
konnte sehen, dass er schwer geatmet hat.»
«Und was
schließen wir aus alledem?»
Tron zuckte die
Achseln. «Nichts. Und wir sollten jetzt auch noch keine
großen Schlüsse ziehen, sondern uns lieber um das
Nächstliegende kümmern.»
«Wie Marchmain
zu diesem Billett gekommen ist?»
Tron nickte.
«Wenn ihm der Täter das Billett nicht selber
überreicht hat, was einigermaßen unwahrscheinlich ist,
hat er jemanden in Marchmains Loge geschickt. Kommen Sie sofort in
das Magazin der Cantina.» Tron sah Bossi an. «Wen
würden Sie in einem solchen Fall schicken?»
«Jemanden vom
Personal», sagte Bossi. «Vielleicht einen der
Logenbeschließer.»
Tron nickte.
«Genau das wird er getan haben. Draußen stehen zwei von
unseren Leuten. Nehmen Sie einen der beiden mit und finden Sie den
Mann, der Marchmain das Billett gebracht hat. Der andere Sergente -
am besten Caruso - soll Flyte suchen und ihn bitten, sofort
hierherzukommen. Er soll auf keinen Fall sagen, was passiert ist.
Ich will sehen, wie Flyte reagiert, wenn wir ihn mit der Leiche
seines Onkels konfrontieren. Caruso soll ihn ins Foyer bringen. Da
kann er auf mich warten.»
«Und wo wollen
Sie mit dem Mann reden, der Marchmain das Billett gebracht hat,
Commissario?»
Tron überlegte
kurz. Dann sagte er: «Am besten hier in diesem Kabuff. Hier
fallen wir am wenigsten auf. Wir breiten einfach ein Tischtuch
über Marchmain. Und dieser Pächter mit dem bizarren Namen
...»
«Vittorio
Knarz.»
«Signor Knarz
kann den Betrieb wiederaufnehmen», sagte Tron. «Wenn
wir Glück haben, kriegt niemand etwas davon mit, was hier
passiert ist.»
Bossi grinste.
«Sie denken an Spaur?»
Tron beschränkte
sich darauf, stumm den Kopf zu senken.
*
Bossi hatte die
Tür des Kabuffs einen Spaltbreit offen gelassen, sodass Tron
die Schritte der Saaltöchter hinter dem Tresen hören
konnte, das Klirren von Gläsern und die sonore Stimme von
Vittorio Knarz. Er hatte sich auf einem kleinen Schemel
niedergelassen, und als er den Kopf drehte, sah er, dass neben ihm
auf dem Regal mindestens hundert Flaschen eines Getränks
standen, das laut Etikett La Veuve Clicco hieß. Hmm,
dachte Tron, schrieb man das neuerdings so? Oder klebten die Leute
in Reims spezielle Etiketten auf ihre italienischen Lieferungen,
damit die Trinker vor Ort keine Schwierigkeiten mit der Aussprache
hatten? Oder hatte er es hier womöglich mit einer extrem
plumpen Fälschung zu tun? Ach, egal. Im Moment gab es
wichtigere Fragen zu klären.
Wer also könnte
Marchmain in dieses Kabuff gelockt und ihn anschließend
getötet haben? Flyte? Der kultivierte, sympathische Flyte, der
so hübsch den kleinen Finger abspreizte, wenn er eine Tasse
zum Mund führte? Der aber in diesen Rechtsstreit mit seinem
Onkel verwickelt war, bei dem es um richtig viel Geld
ging?
Dass Spaur den Mord an
Marchmain mit freudigem Interesse zur Kenntnis nehmen würde,
stand jedenfalls fest. Denn hatte Flyte, würde Spaur sagen,
anders als bei dem Mord an Petrelli, diesmal
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