Die letzte Lagune
sitzt im
Foyer», sagte der Sergente nur. «Unter dem Bild des
Kaisers.»
Dort saß er
also, warf nervöse Blicke um sich und fragte sich
wahrscheinlich, aus welchem Grund man ihn aufgefordert hatte,
sofort wieder ins Fenice zu kommen. Tron hatte Caruso eingeschärft, alle
Fragen Flytes unbeantwortet zu lassen, und er kannte den Sergente
lange genug, um zu wissen, dass der sich daran gehalten hatte.
Flyte hatte seine Abendgarderobe (Frack, baùta, Schwanenhelm), die der
Abendgarderobe seines Onkels (Frack, baùta, Schwanenhelm) zum
Verwechseln glich, mit einem schlichten Gehrock vertauscht. Sein
Mantel lag über der Lehne des Sessels. Als er Tron kommen sah,
sprang er besorgt auf. «Ist irgendetwas
geschehen?»
Tron ging auf die
Frage nicht ein. «Wir brauchen nur ein paar Auskünfte
von Ihnen, Dr. Flyte.»
«Und
welche?»
«Sie haben nach
Beginn des dritten Aufzuges Ihre Loge verlassen», sagte Tron.
«Würden Sie uns verraten, warum Sie das getan haben und
wo Sie anschließend gewesen sind?»
Flyte sah Tron an, als
hätte jemand eine Frage in einer unbekannten Sprache an ihn
gerichtet. «Wo ich anschließend ...» Er brach ab
und ließ den Rest des Satzes hilflos in der Luft
hängen.
«Ich wollte
wissen», wiederholte Tron, «wo Sie die letzten neunzig
Minuten gewesen sind. Sie haben Ihre Loge während der
Aufführung verlassen. Gab es einen Grund
dafür?»
Wieder entstand eine
ziemlich lange Pause, in der Flyte seine Manschettenknöpfe
musterte. Schließlich seufzte er und sagte: «Ich hatte
beobachtet, dass Holly und Lime die Vorstellung verlassen haben.
Und da wollte ich ihnen nachgehen.»
«Sind Sie den beiden
nachgegangen?»
Flyte nickte.
«Ja, das bin ich. Jedenfalls hatte ich die Absicht. Ich
dachte, Holly und Lime würden über den Rio di San Luca
zum Canalazzo laufen und von dort weiter zum Palazzo Zafon. Aber
die beiden waren plötzlich verschwunden.»
«Was haben Sie
dann getan?»
«Mich in meine
Wohnung begeben», sagte Flyte. «Zurück ins Fenice
wollte ich nicht. Ich hatte keine Lust mehr auf
Lohengrin.»
«Gibt es Zeugen
dafür? Ich meine, hat Sie irgendjemand auf dem Weg nach Hause
gesehen?»
«Zeugen?»,
platzte es aus Flyte heraus. «Großer Gott, was ist denn
los? Ist den beiden irgendetwas zugestoßen? Geht es um
Holly?»
Tron konnte auf einmal
Angst in seinen Augen sehen. Er schüttelte den Kopf. «Es
geht nicht um Holly Parker und Mr. Lime», sagte er ruhig.
«Es geht um Mr. Marchmain. Er wurde während der
Vorstellung in den Vorratsraum der Cantina gebeten.» Tron wies auf den
Tresen, vor dem ein paar Offiziere standen. «Da hält er
sich immer noch auf. Vielleicht sollten wir ihn einfach besuchen.
Kommen Sie.»
Sämtliche
Instinkte sagten Tron mittlerweile, dass Flyte mit der Ermordung
Marchmains nichts zu tun hatte. Allerdings hatte er auch gelernt,
seinen Instinkten nicht zu trauen. Zumal er, wie er sich
eingestand, wegen der Tagebücher ein gewisses Interesse an
Flytes Unschuld
hatte.
Sie betraten den
schmalen Gang hinter dem Tresen und drängten sich an Vittorio
Knarz und den Saaltöchtern vorbei. Dann klopfte Tron an die
Tür zum Magazin, die sofort von Bossi geöffnet
wurde.
Der Engländer
reagierte so, wie Tron es erwartet hatte. Er warf einen kurzen
Blick auf Marchmain und schwieg einen Moment. Dann sagte er
achselzuckend: «Ich habe immer damit gerechnet, dass ihn
irgendwann jemand umbringt», sagte er schließlich.
«Aber ich hatte nicht gedacht, dass es so schnell gehen
würde. Wie ist es passiert?»
«Jemand hat
Marchmain mit einem Billett in dieses Kabuff gelockt und ihn sofort
mit zwei Schüssen erledigt.»
«Gibt es schon
eine Spur?»
Tron schüttelte
den Kopf. «Noch nicht.» Er sah Flyte an. «Hatte
Marchmain Feinde? Hier in Venedig?»
«Freunde hatte
er jedenfalls nicht», entgegnete Flyte trocken. Er warf noch
einen flüchtigen Blick auf den toten Onkel zu seinen
Füßen. Dann sagte er, ohne Tron anzusehen: «Was
seine Feinde angeht, sollten Sie vielleicht mit Lime reden. Er
hätte nächsten Montag ein äußerst unangenehmes
Gespräch mit meinem Onkel führen
müssen.»
Tron hob die
Augenbrauen. «Könnten Sie das
erläutern?»
«Lime war Mr.
Marchmains Privatsekretär», sagte Flyte. «Er hat
alles das geregelt, was außerhalb des normalen
Geschäftsbetriebs stattfand und nicht in den Büchern
auftaucht. Dinge, mit denen Mr. Peggotty nicht befasst war. Von
denen er vermutlich nicht einmal wusste.»
«Peggotty? Wer
ist
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