Die letzte Lüge: Thriller (German Edition)
sprechen«, sagt er den Tränen nah.
»Auf keinen Fall«, sagt Lowry. »Und übrigens hält dich O’Hara ebenso für schuldig wie ich. Das hat sie von Anfang an getan. Sie hat dir was vorgemacht.«
»Ich muss O’Hara sprechen«, sagt er noch einmal. Auf der anderen Seite der Tür glotzt Grimes O’Hara verächtlich an und zeigt mit zwei Fingern einen Abstand von wenigen Millimetern an. »Dein Freund ist so kurz davor einzuknicken.«
»Schwachsinn«, sagt O’Hara.
»Wie bitte?«
»Verdammter Schwachsinn.«
Als O’Hara wieder in die Kammer sieht und es ihr gelingt, einen Blick auf McLains verängstigtes Gesicht zu erhaschen, verschwimmen seine Gesichtszüge. Eine Sekunde lang ist O’Hara nicht sicher, ob dort McLain oder Axl sitzt.
16
Um zwei Uhr morgens kann O’Hara es nicht länger mit ansehen, stiehlt sich aus dem Gebäude und geht die Pitt Street in nördlicher Richtung entlang. Sie kommt an den Einkaufswagen der Penner vorbei, die unter der Williamsburg Bridge und am Samuel Gompers House leben, dem sozialen Wohnblock, den Dolores ihr Zuhause nennt, und sie macht erst wieder an der Kreuzung 1st Avenue und 5th Street Halt. Das ist die Adresse des Three of Cups, die ihr McLain gegeben hatte. Der Bar, in der er angeblich gearbeitet hat. Trotzdem sie direkt davor steht, dauert es eine Weile, bis sie die steile Stahltreppe entdeckt, die vom Bürgersteig in den Keller führt.
Chris Rock hat mal in einem Sketch behauptet, Frauen würden in weniger als 15 Sekunden entscheiden, ob sie mit einem Typen ins Bett wollen oder nicht. Als O’Hara das zum ersten Mal hörte, musste sie laut lachen, weil sie wusste, dass er Recht hatte. Mit Bars geht es ihr ganz genauso und zu ihrer Überraschung ist es bei dieser hier Liebe auf den ersten Blick. Ihr gefällt die lila Filzkappe auf dem Kopf der Frau hinter dem Tresen, die an Sly and the Family Stone von 1974 erinnert, und sie mag auch die Aufkleber der Bands, die drei Schichten dick an der Decke kleben. Am besten aber gefällt ihr, was sie hört: Aerosmith.
Sie setzt sich auf einen Hocker und winkt die Barkeeperin heran, sagt ihr aber nicht, dass sie Polizistin ist. »Ich suche einen Freund der Familie, David McLain. Ich hab gehört, dass er hier arbeitet.«
»David ist ein Schatz. Er sammelt an ein paar Abenden die Woche leere Gläser und Flaschen ein. Ehrlich gesagt, mache ich mir ein kleines bisschen Sorgen um ihn. Die letzten beiden Abende ist er nicht aufgetaucht und er geht auch nicht ans Telefon. Er kam mir nicht vor wie ein Typ, der einfach verschwindet, ohne Bescheid zu sagen.«
»Nein, so einer ist er nicht«, sagt O’Hara, knöpft sich den Mantel zu und will gehen. »Deshalb suche ich ihn auch. Ich bin sicher, er hat ein schlechtes Gewissen, weil er nicht angerufen hat.«
»Darf ich Ihnen gar nichts zu trinken anbieten?«
»Das nächste Mal.«
McLain hat die Wahrheit gesagt über den Laden, in dem er arbeitete. Hoffentlich hat er auch die Wahrheit über seinen Thanksgivingeinkauf gesagt. Key Foods, wo McLain eingekauft haben will, liegt eine Straße weiter östlich und eine weiter südlich auf der Avenue A. Es ist zehn vor drei Uhr morgens, als O’Hara den in die Jahre gekommenen, rund um die Uhr geöffneten Supermarkt betritt. Hinter dem Brotregal befindet sich eine Leiter, die zu einem kleinen Büro führt, von dem aus der Geschäftsführer am Schreibtisch sitzend die Kassen überwacht. Die Decke ist so niedrig, dass nicht einmal die 1,60 Meter große O’Hara dort aufrecht stehen kann. Als ihr der Geschäftsführer sagt, er benötige noch ein paar Minuten, setzt sich O’Hara auf eine Palette mit Milch und liest sich die Speisekarte von Empire Szechuan durch.
McLains Liste zieht sich in einer schmalen grünen Spalte bis zum Rand hinunter. Der erste Artikel ist eine Würzmischung für die Füllung, ein Pfeil nach links zeigt auf eine Zusatzliste: Hühnerbrühe, Pilze, Sellerie, Semmelbrösel, Pekannüsse, Eier, Salbei.
In den letzten vier Stunden hat sich McLain wiederholt von Lowry als Loser beschimpfen lassen. Vielleicht ist er das im Vergleich zu einer potentiellen Rhodes-Stipendiatin auch. Aber wie viele 19-Jährige machen schon ihre eigene Truthahnfüllung?
Nach dem Abstecher zu den Zutaten für die Füllung setzt sich die Liste folgendermaßen fort: Rosenkohl, Blumenkohl, Kartoffeln, Olivenöl, Schnittlauch, Butter, Sahne, Truthahn (acht bis zwölf Pfund), Bratpfanne.
Preiselbeersauce ist der letzte Artikel auf der Liste und er wurde
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