Die letzte Lüge: Thriller (German Edition)
einen Anruf von O’Hara erhalten hatte. Höchstwahrscheinlich war ihre überstürzte Flucht aus dem Bibliotheksgebäude auch auf den Überwachungsvideos zu sehen. Lowry und Grimes könnten schon in wenigen Stunden an ihre Tür in Riverdale klopfen.
O’Hara lässt den Wagen stehen und marschiert im Dunkeln einmal um den Häuserblock, um ihr Gehirn wenigstens so weit zu beruhigen, dass es wieder denkfähig ist. Sie hält auf dem schmierigen Kopfsteinpflaster nach Ratten Ausschau, begegnet aber nur europäischen Touristen, die ihr Arm in Arm entgegenschlendern. Während sie kalte Luft einatmet und ihre Panik irgendwo in einer inneren Ecke verstaut, betrachtet sie die gut gekleideten Männer und Frauen, deren Wangen von einigen Drinks nach dem Essen gerötet sind.
Wieder im Wagen ruft O’Hara Lee an. Lee ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt alles, was O’Hara bleibt. Und auch das nicht mehr lange. Wird erst einmal bekannt, welche Rolle O’Hara bei den katastrophalen Ereignissen des Abends gespielt hat, wird sich das, was O’Hara an Druckmitteln gegen Lee in der Hand hat, in Luft auflösen. Lee geht nach dem ersten Klingeln dran und ihr freundlicher, beflissener Ton macht O’Hara Mut. Lee scheint noch immer bereit, sich durch freiwillige Mitarbeit Schwierigkeiten ersparen zu wollen.
»Evelyn«, sagt O’Hara so gelassen wie möglich, »sind Stubbs, Muster und Delfinger noch mit anderen Mädchen ausgegangen, die Sie vermittelt haben?«
»Muster auf jeden Fall, das kann ich Ihnen aus dem Kopf sagen. Warten Sie eine Sekunde, ich sehe mal bei den anderen nach … Die Antwort lautet, ja. Ich habe hier ein irisches Mädchen namens Molly, die sich mit allen dreien getroffen hat. Nennen Sie mir einen Treffpunkt und ich werde dafür sorgen, dass sie in einer Stunde dort ist.«
Als Lee aufgelegt hat, kurbelt O’Hara die Scheibe herunter und ruft Mary Kelly an, ihre Nachbarin aus dem dritten Stock, die einen Schlüssel zu ihrer Wohnung hat. O’Hara hat keine Bedenken, sie um diese Uhrzeit noch anzurufen, denn die 85-jährige Witwe hat seit einer Reihe von Jahren schon keine zwei Stunden mehr am Stück durchgeschlafen.
»Natürlich nehme ich den alten Bruno zu mir«, sagt Kelly. »Mister B und ich werden eine tolle Zeit haben.«
»Nicht zu toll, Mary. Als du ihn das letzte Mal genommen hast, wollte er danach einen ganzen Monat lang kein Trockenfutter mehr. Und bitte, schenk ihm kein Bier in den Wassernapf. Ich mein’s ernst.«
»Sei kein Spielverderber, Darlene. Das passt nicht zu dir.«
Um ein Uhr morgens taucht wie verabredet eine sehr hübsche Brünette in der Lounge im zweiten Stock des Rivington Hotels auf und geht selbstbewusst auf O’Haras Ecktisch zu. Sie ist ebenso zierlich gebaut wie Pena und mit ihrer topmodernen dunklen Jeans und dem Fellmantel aus dem Second-Hand-Laden mindestens so schick gekleidet wie die Hotelgäste. »Schöner Treffpunkt«, sagt Molly mit breitem irischem Akzent. »Und das Beste ist, ich war noch nie beruflich hier.«
»Als Lee meinte, Sie seien Irin«, sagt O’Hara, »hatte ich mit einer Irin aus Brooklyn gerechnet, so wie ich eine bin.«
»Nicht mit einem Mädchen aus Killarney.«
»Eher einem aus Bay Ridge.«
»Naja, ich bin jetzt seit drei Jahren hier. Der Akzent ist längst nicht mehr das, was er mal war.«
O’Hara bestellt zwei irische Whiskeys und fragt Molly, woran sie sich in Zusammenhang mit Stubbs, Delfinger und Muster erinnert.
»Muster ist ein echter Arsch. Sieht in seinen maßgeschneiderten Anzügen und Hemden und mit den raffiniert verwuschelten Haaren allerdings phantastisch aus. In seiner Wohnung war ich nie. Hab’s ihm in seinem Büro auf dem modernen Schreibtischstuhl besorgt, während er mit Kunden telefoniert und seine Assistentin nebenan arbeitet. Die wusste genau, was da vor sich geht und soweit ich das verstanden habe, ging’s ihm zumindest teilweise auch genau darum. Er hat kaum zur Kenntnis genommen, dass ich da war. Als er fertig war, was ziemlich schnell ging, hat er auf einen wunderschönen Umschlag auf dem Tisch gedeutet. Elegante Handschrift, das muss man ihm lassen, besonders für einen Mann.«
»Und Delfinger?«
»Ganz anders, aber eigentlich noch schlimmer. Hatte immer voll das schlechte Gewissen und war total neurotisch. So eine Art Woody Allen. Tu’s oder tu’s nicht, aber lass mich mit dem Theater in Ruhe, danke schön.«
»Und was war mit dem beliebten Chefsprecher aus der Nachrichtenredaktion, Hank Stubbs?«
»Hat schwer was in
Weitere Kostenlose Bücher