Die letzte Lüge: Thriller (German Edition)
Schnellstraße ab, überfährt sämtliche roten Ampeln zwischen Meatpacking District und 5th und dann weiter in südlicher Richtung bis zum Washington Square, wo sie an der Ostseite der Bobst Library in zweiter Reihe parkt. Sie springt aus dem Wagen, dessen Lichter noch immer blinken, und checkt die Uhrzeit auf ihrem Handy, dem sie mehr Vertrauen schenkt als ihrer Armbanduhr: es ist 22.27 Uhr. Sie hat es in 23 Minuten in die Innenstadt geschafft. Auf der anderen Straßenseite strömen Studenten in den riesigen Starbucks rein und wieder heraus. O’Hara könnte auch einen Kaffee vertragen, wartet aber lieber auf der Straße und versucht, sich zu überlegen, was sie tun wird, wenn Tomlinson eintrifft. Wo könnten sie sich unterhalten? Mit welcher Frage sollte O’Hara beginnen? Sie darf nicht noch einmal wie am Telefon den Fehler machen und ihr zu schnell verraten, welche Karten sie in der Hand hat.
Sechs Minuten später ist Tomlinson noch immer nicht aufgetaucht. Vielleicht hat sie es sich, wie Elkin so schön meinte, noch einmal anders überlegt. Wahrscheinlicher ist allerdings, dass sie sich aus dem Staub gemacht hat. O’Hara spricht ihr eine Nachricht auf den Anrufbeantworter und wartet angespannt weitere drei Minuten. Um 22.36 Uhr schiebt sie sich durch die Drehtür in die Bibliothek. Raumgreifende Stille erfüllt den turmhohen Lichthof. Klappernde Absätze, das Summen einer Bohnermaschine und leises Stimmengewirr liegen unter vierzehn Stockwerken leerer Luft begraben.
Auf der anderen Seite des Lichthofs öffnet sich der Fahrstuhl mit einem Klingeln. Eine asiatische Studentin in modischen Lederstiefeln – offenbar sind zwei Drittel aller Studierenden an der NYU Mädchen asiatischer Abstammung – tritt auf den schwarz-weißen Boden des wahrscheinlich gewaltigsten Ballsaals der Stadt südlich der Grand Central Station.
Belastet durch die unbewusste Müdigkeit, die jeden befällt, der sich um diese Uhrzeit noch in dem Gebäude aufhält, geht das Mädchen über die schimmernden Kacheln und zieht zwei Bücher aus ihrem Rucksack, die sie an der Tür vorzeigt. Rechts von ihr, an dem langen Tresen, stehen drei Studenten schläfrig Schlange.
»Detective«, ruft eine weibliche Stimme durch den Lichthof, »hier oben.« Die Asiatin bleibt wie angewurzelt stehen, sieht nach oben und stößt einen Schrei aus. O’Hara, die bereits das Drehkreuz passiert hat, verrenkt ebenfalls den Hals und sieht gerade noch, wie eine zierliche Gestalt auf der obersten Galerie von einem Stuhl aus über die Plexiglasabsperrung klettert und sich in den Lichthof fallen lässt. Der Körper, von dem O’Hara weiß, dass es sich um Tomlinson handelt, schlägt keine drei Meter von der asiatischen Studentin entfernt auf.
Es entsteht eine Pause, in der das klatschende Geräusch des grässlichen Aufpralls die leiseren, vereinzelten Geräusche erstickt. Das asiatische Mädchen schreit noch einmal – und klappt zusammen. Ihre Bücher und Taschen fallen mit einem laut hallenden Geräusch zu Boden. Dann ist plötzlich der Teufel los: verschiedene Alarmsirenen springen an, Sicherheitsbeamte stürzen sich auf das Mädchen und auf Tomlinson und von allen Seiten mischen sich die spitzen Schreie der Augenzeugen in den Lärm. Zwei Wartungsarbeiter rennen auf Tomlinson zu und werfen eine nicht ausreichend große Plane über ihren verzerrten Körper und die dunkelrote Lache, die sich darunter ausbreitet. Inmitten all des Gekreisches, Gerennes und der Sirenen verschwindet O’Hara klammheimlich durch die Drehtür.
36
Draußen veranstalten sämtliche herbeigerufenen Rettungsdienste ein Riesentohuwabohu: Krankenwagen, Streifenwagen und Beamte des Sicherheitsdienstes der NYU treffen auf dem Washington Square ein. O’Hara geht zu ihrem Wagen, nimmt die blinkende Sirene vom Armaturenbrett und fährt los. Sie überquert die Houston Street auf der Mercer und fährt erst mehrere Kopfsteinplasterstraßenzüge weiter rechts ran und macht die Scheinwerfer aus.
O’Hara weiß, dass es kein Vorteil für sie sein wird, dass die Bibliothek so leer war. Die wenigen Zeugen werden umso aufmerksamer gewesen sein. Unter den Putzkräften, Sicherheitsbeamten und Studenten, die sich zu dem Zeitpunkt in dem Gebäude aufgehalten haben, wird mindestens einer gehört haben, wie Tomlinson nach ihr rief, bevor sie sprang. Und auch wenn sich O’Hara in dieser Hinsicht täuschen sollte, würden die Beamten schon bald herausbekommen, dass Tomlinson 36 Minuten vor ihrem Selbstmord
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