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Die letzte Lüge: Thriller (German Edition)

Die letzte Lüge: Thriller (German Edition)

Titel: Die letzte Lüge: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter de Jonge
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Leergut.

     

38
     
    Am Mittwoch reißen Presslufthämmer ab acht Uhr morgens den Bürgersteig in der Houston Street auf. Verfluchte Scheiße. O’Hara wirft sich ihren Mantel über, geht über die Hintertreppe in die Lobby hinunter und tritt in das trübe Dezemberlicht. Direkt neben dem Howard Johnson’s Express Inn befindet sich ein Laden mit einer bescheidenen Auslage und dem Schriftzug YONAH SCHIMMEL KNISH BAKERY – ORIGINAL SINCE 1910 über dem Fenster. Als O’Hara den Streifenwagen entdeckt, der die Houston entlang auf sie zurollt, beschließt sie die Backwaren zu testen. In den fünf Jahren, die sie nun schon im 7. Bezirk arbeitet, hat O’Hara zwar Pastrami und Rinderbrust bei Katz und auch Bagels und Räucherlachs bei Russ & Daughters gegessen, aber nie die Schwelle von Yonah’s überschritten. Als sie nun durch die Tür tritt, kommt gerade eine Steige mit dem namensgebenden Gebäck in einem quietschenden Speiseaufzug heraufgefahren. O’Hara bestellt sich ein Knish und einen Kaffee und dank einer plötzlichen Eingebung, die die steinalte Blondine an der Kasse in Staunen versetzt, da sie O’Hara nicht für eine Touristin gehalten hätte, blättert sie weitere vierzehn Dollar für eines der schwarzen Yonah Schimmel Original Knishes-T-Shirts hin, die an einer Schnur von der Decke hängen.
    Wieder in ihrem Zimmer angelangt, ist O’Hara äußerst zufrieden mit der jüdischen Hausmannskost, mit der sie in dieser Form zum ersten Mal Bekanntschaft macht. Als Kartoffeln fressende Irin muss sie sich kaum anstrengen, um die Speise zu mögen. Die warme süße Stärke erzeugt ein Wohlgefühl, das den Optimismus, der sie trotz allem kurz vor dem Einschlafen überkommen hatte, erneut in ihr aufsteigen lässt. Als Letztes hatte sie in der vergangenen Nacht immer wieder die Zeitachse durchgelesen und nach kurzer Suche findet sie das Blatt auf dem Fußboden unter dem Schreibtisch, wohin es geflattert war.
    Sie überfliegt die acht Einträge und bleibt an der unterstrichenen Formulierung »drei Meter nördlich« hängen. Damit ist die Stelle gemeint, wo Narin, der Kriminaltechniker, mehrere dicke Tropfen von Penas Blut im Rinnstein und im Gulli gefunden hatte. Laut Narin war dies die Stelle, an der Pena einen Schlag von hinten auf den Kopf erhalten hatte, wahrscheinlich als sie sich gerade vorbeugte und übergeben wollte. Aber weshalb war sie vor dem Angriff Richtung Norden gegangen? Penas Wohnung in der Orchard Street 78 lag nur sieben Minuten zu Fuß vom Freemans entfernt. Hätte sie nach Hause gehen wollen, wäre sie in östlicher Richtung durch den Park gegangen, nicht nach Norden. Und wenn Pena um vier Uhr morgens nicht nach Hause wollte, wohin wollte sie dann? Selbst im unfreundlichen Licht eines nüchternen Morgens scheint das eine vielversprechende Frage zu sein. Leider hat O’Hara, zumindest im Moment, keine Ahnung, wie sie zu beantworten sein könnte.
    O’Haras letzte Anmerkung, die sie unten auf die Seite gekritzelt hat, lautet »eine Stunde und einundfünfzig Minuten.« Das ist die Zeit, die zwischen Penas Verlassen der Wohnung und ihrem Eintreffen am nächsten bekannten Zielort, Tower Records, verging, wo sie die beiden CDs kaufte. Drei Wochen nach dem Mord an Pena konnte immer noch nicht geklärt werden, was in diesen einhundertundelf Minuten geschah. Was die Lücke im Zeitablauf so vielversprechend macht, ist der Umstand, dass Pena deshalb zweimal die Unwahrheit sagte. Zuerst belog sie McLain, indem sie ihm erzählte, sie würde ihre Freundinnen zum Essen treffen, dann ihre Freundinnen, als sie ihnen mitteilte, sie käme gerade vom Training.
    O’Hara steht vom Schreibtisch auf und zieht erstmals seit ihrer Ankunft in dem Zimmer die Vorhänge zurück. Das Zimmer im dritten Stock ist nach Westen Richtung Rivington Park ausgerichtet. Wenn sie am Fenster steht und den Kopf nach Süden wendet, kann sie die Umrisse des Ateliers hinten in der Ferne erkennen, der die der anderen Wohnblocks überragt. Das Stahlgerüst wirkt wie eine Tuschezeichnung. Unten vor der Baustelle macht O’Hara gerade noch so die Stelle aus, an der Pena angegriffen wurde.
    Während O’Hara die entblätterten Bäume auf der Straße anstarrt, macht ein Bus zischend unter ihr Halt. Vor dem Wartehäuschen an der Ecke zwischen Forsyth und Houston steht ein Zeitungskasten mit der Post. Die Überschrift lautet: SIE SPRINGT. Wie von den Zeitungsmachern beabsichtigt, rast O’Hara nach unten, um ein Exemplar zu kaufen. Erst als sie wieder

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