Die letzte Nacht
ist egal, wo du de facto bist.
»Guten Abend, Herr Koller!«, grüßte ihn eine Sekretärin. »Noch hier?«
»Guten Abend, Frau Meier. Um ehrlich zu sein, ich wollte grade gehen. Aber dann hab ich gesehen, dass es regnet …«
»Möchten Sie einen Schirm?«
»Ich habe selbst einen, vielen Dank!«
Die Experten sagen, das Geld verwandle sich von Hardware in Software. Was immer das heißen mag. Und sie errichten riesige Areale, mit Glas und lichtdurchfluteten Räumen. Um die Kunden zufriedenzustellen.
Koller lief den Flur entlang. Banking is coming. Aber im Hintergrund ist alles unverändert geblieben. Die Banken schützen sich durch Überwachung: Überall hängen Videokameras, Sensoren und Metalldetektoren. Um jeden Computer ist ein unsichtbarer Stacheldraht gezogen. In jedem Flur verbirgt sich ein elektronisches Auge. Koller klopfte an die Bürotür von Ueli Sutter, seinem Stellvertreter.
»Ich geh jetzt, und du?«
Sutter seufzte. Er war zwanzig Jahre jünger als Koller, und er befand sich in jener Phase, in der man arbeiten muss, ohne zeigen zu dürfen, dass es einem schwerfällt.
»Ich muss noch ein paar Kleinigkeiten erledigen«, antwortete er hinter seinem Bildschirm, »dann geh ich auch.«
»Sind die so dringend? Es ist Freitagabend …«
»Nein, nein, nur noch zwei, drei E-Mails. Aber sie sollen noch vor dem Wochenende raus.«
»Verstehe. Hör mal, ich geh heut Abend auf diese Party …«
»Ins Kaufleuten?«
»Nein, ich wollt mal in dieses neue Lokal schauen, das Fiesta, da läuft eine Specialparty und wir haben Einladungen bekommen. Du etwa nicht?«
»Ach so. Weiß nicht. Gehst du ganz sicher hin?«
»Schon. Ich will sehen, wie’s da ist.«
»Vielleicht komme ich auf einen Sprung vorbei, wenn ich hier fertig bin.«
Koller verabschiedete sich von seinem Stellvertreter und ging zum Fahrstuhl. Er hatte keine Familie, und obwohl er nicht mehr ganz mit dem schnellen Rhythmus seiner jüngeren Kollegen Schritt halten konnte, ging er Freitag- und Samstagabend doch gerne aus.
Und sei es nur, um auf der Höhe der Zeit zu bleiben.
Koller verstand es, das System zu nutzen, aber er stand auch unter dessen Einfluss. Dieses Ambiente, dieses gedämpfte Licht in den immateriellen Räumen … am Ende vergisst man, dass Geld eigentlich etwas ist, das man anfassen muss. Ganz genau. Das sollte man nicht vergessen.
Und man sollte nicht vergessen, dass es draußen Musik gibt und Mädchen, die sich gern einen Daiquiri ausgeben lassen, und erleuchtete Tanzflächen, auf denen man ein paar Salsaschritte wagen kann. Hin und wieder musste sich Reto Koller ins Gedächtnis rufen, dass das Leben aus konkreten Dingen besteht. Er musste ein verrauchtes Lokal betreten und gegen zwei, vielleicht gar ein bisschen angetrunken, nach Hause kommen.
21
Der menschliche Faktor
Matteo brauchte fünfundzwanzig Minuten, um zu Linas Bett zu gelangen. Fünfundzwanzig Minuten, die ihm so lange wie ein Leben erschienen; die er Zentimeter um Zentimeter über den Boden robbte, mit gespitzten Ohren, die auch das leiseste Warnzeichen wahrnahmen. Endlich war er bei ihr und flüsterte ihr zu:
»Ich bin’s.«
»Hab schon auf dich gewartet …«
Matteo spürte, dass sie lächelte.
»War nicht so einfach, du, wenn der aufwacht …«
»Ganz ruhig«, wisperte Lina, noch immer mit einem Lächeln in der Stimme. »Er kann schließlich nicht ahnen, dass wir, dass wir fliehen wollen.«
»Ach nein? Und weshalb sollte ich sonst mitten in der Nacht hier sein?«
»Deshalb.«
Lina beugte sich, von einem beängstigenden Quietschen der Federung begleitet, über den Rand der Liege und küsste Matteo auf den Mund. Er war derart verblüfft, dass er zwei Sekunden verstreichen ließ, bevor er reagierte. Für kurze Zeit herrschte nahezu absolute Stille in der Hütte. Wenn Elton erwacht wäre, hätte er vielleicht keuchenden Atem gehört, aber er hätte geglaubt, dass eine der Geiseln einen Alptraum hat.
»Wir sind verrückt«, sagte Matteo. »Ich hätte nie gedacht, dass …«
»Du redest zu viel.«
Lina glitt vom Bett, umarmte ihn und küsste ihn erneut.
»Psst«, zischte Matteo, »wenn Elton uns …«
Aber er brachte den Satz nicht zu Ende. Sie war vollkommen angezogen, wie er. Es sollte die Nacht ihrer Flucht werden. Und sie standen hier, am Fußende der Liege, eng aneinandergedrückt. Matteo nahm Linas Geruch wahr, spürte die Wärme ihrer Lippen. Er versuchte ruhig zu bleiben. So wird das nichts, dachte er, so werden wir erwischt. Er ließ sie
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