Die letzte Nacht
Contini kennengelernt?«
Francesca zögerte ein wenig. Sie nahm einen Schluck kalten Tee und ließ den Blick über die Restauranttische schweifen, die sich zwischen großen Schirmen drängten. Es war ein träger Nachmittag. Nur ein paar verschwitzte Touristen schlenderten die Straße in Richtung Bahnhof entlang. Francesca sah erneut zu Anna und sagte:
»Es ist eine sehr persönliche Geschichte.«
»Oh, tut mir leid, wenn ich …«
»Kein Problem. Contini war mit Nachforschungen zu einer Familienangelegenheit beschäftigt, und ich bin zufällig mit reingerutscht, weil ich entdeckt hatte, dass ich mit Leuten verwandt bin, von denen ich nichts gewusst hatte. So eine Geschichte halt, nichts Besonderes. Aber es war eine schwierige Zeit für mich, und Contini hat mir viel geholfen.«
»Er ist ein schwer zu durchschauender Mensch«, sagte Anna, »aber er scheint jemand zu sein, auf den man sich verlassen kann.«
»Das stimmt.« Francesca nahm noch einen Schluck Tee. »So ist er.«
Anna spürte, dass es besser war, das Gespräch auf weniger gewichtige Dinge zu lenken:
»Was übrigens Diebstähle und Überfälle betrifft, Filippo, erzähl Francesca doch mal die Geschichte mit der Zürcher Post …«
Filippos Augen fingen an zu glänzen. Anna musste lachen:
»Filippo tut so, als ginge ihm diese Geschichte auf die Nerven«, erklärte Anna, »aber in Wirklichkeit hat er angefangen, nach allen großen Bankrauben der Vergangenheit zu suchen …«
»Der hier hat übrigens in der Schweiz stattgefunden«, erklärte Filippo, »und es war ein ganz außergewöhnlicher Coup! 1997 sind fünf Männer, alle mit Maschinenpistolen, in das Postamt beim Zürcher Frauenmünster eingedrungen. Sie hatten genaue Informationen, aber einen zu kleinen Lastwagen. So haben sie, wie es so schön heißt, nur vierundfünfzig Millionen Franken erbeutet, die restlichen siebzehn Millionen mussten sie dalassen.«
»Vierundfünfzig Millionen!«, murmelte Francesca. »Und dann?«
»Und dann waren die Leute wie verrückt! Die Zeitungen sprachen vom größten Bankraub aller Zeiten, selbst der Mann, dem sie seinen Wagen gestohlen hatten, meinte, dass er sich für die Bankräuber freuen würde. Es gab sogar ein Autohaus, das damit Werbung machte: Mit dem neuen Soundso, liebe Diebe, hättet ihr die ganze Beute mitnehmen können!«
»Das gibt’s nicht!«, sagte Anna. »Das hast du mir noch gar nicht erzählt!«
»Ja, ein interessanter Fall«, Filippo strich sich über den Bart. »Die Leute riefen auf dem Postamt an und sagten: Gebt uns die anderen siebzehn Millionen! Die Bankräuber wurden zu Volkshelden …«
»Bis man sie erwischt hat«, ertönte Jean Salviatis Stimme.
Alle wandten sich schlagartig um. Salviati war ohne Vorwarnung hinter ihrem Schirm aufgetaucht. Sein Gesicht wirkte müde. Er trug eine Jeansjacke und ein Baseballcap.
»Das läuft immer so«, erklärte er, während er neben Francesca Platz nahm. »Die Diebe halten dem Druck des Reichtums nicht stand und begehen irgendeinen Fehler. Dann ist Schluss mit Volksheld …«
»Schon«, räumte Filippo ein, »aber das war erst später.«
»Und was hätte vorher passieren können?«, entgegnete Salviati. »Die fünf hatten Maschinengewehre! Haben die Zeitungen nicht gefragt, was passiert wäre, wenn einer der Angestellten sich gewehrt hätte?«
Schweigen.
Salviati erhob sich.
»Je eher wir hier verschwinden, desto besser. Habt ihr die Fotos gemacht?«
»Ja.«, antwortete Anna. »Wir haben nur was getrunken, während wir …«
»Ihr hättet nicht in diese Bar gehen sollen.«
»Oh«, auch Anna erhob sich, »aber wir wohnen doch gleich um die Ecke! Meinst du, es besteht die Gefahr …?«
»Mach dir keine Sorgen«, unterbrach sie Salviati. »Du hast recht, ihr wohnt hier. Ich fahre jetzt nach Zürich, aber morgen oder übermorgen komme ich vorbei, um die Fotos zu sehen.«
»Okay«, sagte Felippo. »Du, Jean, entschuldige bitte, dass wir …«
»Entschuldigt bitte ihr, dass ich ein bisschen ruppig bin. Ich habe heute Nacht nicht geschlafen.«
»Das tut mir leid. Können wir irgendwas für dich tun?«
»Nein, ihr tut schon mehr als genug für mich. Lasst uns jetzt gehen, die Straßen habe ich gesehen. In einer Viertelstunde geht mein Zug nach Zürich.«
Salviati verabschiedete sich von den noch immer ein wenig erstaunten Eheleuten Corti. Dann machte er sich gemeinsam mit Francesca, die mit dem Zug nach Locarno wollte, auf den Weg zum Bahnhof. Ringsum döste Bellinzona in der
Weitere Kostenlose Bücher