Die letzte Nacht
»Woher willst du das wissen?«
»Ganz einfach, weil du keine Gelegenheit mehr haben wirst, mit ihm zu sprechen.« Sie stiegen den Pfad hinauf, der von Sonlerto zur Corói-Alm führte. Der Weg war von Gestrüpp überwuchert und an manchen Stellen kaum zu erkennen. Sie kamen an einer kahlen Felswand vorbei. Die Feuchtigkeit ließ den Atem schwerer werden. Matteo lief schweigend weiter. Im Wald schimmerten hier und dort die roten Sprenkel der Ebereschen, und es schien, als sei hier in den letzten tausend Jahren kein Mensch vorbeigekommen.
»Irgendjemand wird uns finden, garantiert«, sagte Matteo nach einiger Zeit.
»Wieso?«, erkundigte sich Elton.
»Weil wir seit zwei Wochen verschwunden sind und …«
»Niemand wird euch suchen. Salviatis Tochter ist eine Vagabundin, einen Tag hier, am nächsten Tag dort. Und du bist lediglich ein drittklassiger Gauner, glaubst du, dass irgendjemand merkt, ob du da bist oder nicht?«
»Aber … aber ihr könnt nicht! Wie lange wollt ihr uns hier oben festhalten?«
»Bis Salviati uns das Geld beschafft hat.«
»Und dann?«
»Und dann nichts weiter.«
»Und wenn ich fliehe?«
Elton seufzte.
»Das wirst du nicht tun. Erstens, weil das unangenehme Folgen für deine Unversehrtheit und die der Frau haben würde.«
»Meinst du Lina? Lina hat damit nichts zu tun, sie …«
»Zweitens«, fuhr Elton fort, »weil es technisch unmöglich ist. Ich werd dich nicht aus den Augen lassen.«
»Aber schließlich war ich es, der euch die ersten Informationen geliefert hat, ich war es, der … der …«
»Der was?«, fragte Elton mit barscher Stimme. »Hör zu, Marelli. Du hast getan, was du tun solltest. Wir haben verhandelt, du hast für uns den Kontakt zu Salviati hergestellt. Jetzt bist du aus dem Spiel.«
»Aus dem Spiel? Aber …«
»Jetzt kehren wir zurück in unsere Almhütte und warten die Entwicklungen ab. Es gibt nur eins, was du im Moment zu tun hast: laufen und den Mund halten. Haben wir uns verstanden?«
»Ich bin nicht …«
»Haben wir uns verstanden?«
Matteo beschleunigte seine Schritte und bahnte sich einen Weg zwischen Erlen und Nussbäumen hindurch. In diesem Augenblick fasste er den Beschluss, sich zu wehren. Vor wenigen Tagen hatte er die Situation noch unter Kontrolle gehabt, und nun … nun war er eine Geißel! Aber er und Lina würden fliehen. Und zwar in dieser Nacht. Um jeden Preis.
»Da gibt’s so eine deutsche Zeitung, die vor Jahren mal einen ziemlich bekannten Bankräuber interviewt hat und von ihm wissen wollte: ›Sind Sie anders als die anderen Menschen?‹ Und wisst ihr, was er geantwortet hat?«
Anna und Francesca schüttelten die Köpfe. Filippo strich sich mit der Hand über den Bart und setzte eine feierliche Miene auf:
»Er hat geantwortet: ›Ich glaube nicht. Geld mögen alle.‹ Einfach genial, versteht ihr? Das bringt die Sache auf den Punkt! Unsere Gesellschaft treibt den Konsum und das Wunschdenken voran, lässt alle maßlos werden. Wer kein Geld hat, will welches haben, und zwar sofort. Eine Erbschaft oder ein Lottogewinn lassen sich nicht planen … ein Bankraub dagegen schon!«
Francesca hatte die Cortis aus Neugier zur Junker-Bank-Filiale von Bellinzona begleitet. Sie musste keine Fotos schießen, aber sie wollte die Bank sehen. Um sich klarzumachen, dass nicht alles nur ein Traum war.
»Wenn es so wäre, wie du behauptest«, sagte Anna zu ihrem Mann, »müssten wir alle Bankräuber sein.«
»Wir haben Angst. Aber das Trugbild des Reichtums beherrscht uns. Genauso funktioniert ein Bankraub: Wenn man Geld braucht, geht man zur Bank, oder?«
Sie saßen in einem Restaurant im Viale della Stazione, unweit der Bank. Sie warteten auf Salviati, der einen Blick auf die Anordnung der Straßen werfen wollte.
»Was meint ihr, wann er kommt?«, fragte Anna. »Ich hab nachher nämlich noch eine Bibliotheksversammlung.«
»Wenn er so ist wie Contini, kommt er zu spät«, sagte Francesca.
Anna sah sie interessiert an. Francesca war ähnlich wie sie, eine junge Frau mit abgeschlossenem Philologiestudium, weit entfernt von Kriminalität und Abenteuern. Und gleichzeitig war sie die Frau des Detektivs. Noch dazu die Frau, die den Detektiv nicht im Stich ließ, wenn dieser in einen Bankraub verwickelt wurde!
»Hör mal, Francesca, darf ich dir eine Frage stellen?«
»Natürlich.« Francesca lächelte. »Wir sitzen schließlich alle in einem Boot, oder?«
Auch Anna lächelte.
»Ich will nicht aufdringlich sein, aber … wie hast du Elia
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