Die letzte Nacht
Nachmittagssonne. Natursteinpflaster, Linden, Boutiquenschaufenster. Mit seinen zart abgestuften Farben wirkte Bellinzona wie der Hintergrund einer Postkarte.
»Es sind anständige Leute«, sagte Salviati.
Francesca nickte. Ihr war klar, dass er Anna und Filippo Corti meinte.
»Du hast sie ein bisschen verschreckt …«
»Ein Bankraub ist kein Kinderspiel.«
»Das stimmt … aber wieso arbeitest du überhaupt mit Amateuren zusammen?«
»Das hier ist ein Spezialfall.« Salviati zog seine Pfeife heraus und begann sie zu stopfen. »Ihr müsst praktisch nichts tun, außer ein bisschen Wache halten.«
»Hast du schon einen Plan?«
»Noch nicht.« Salviati drehte sich um und sah sie an. »Machst du dir Sorgen?«
Francesca überquerte die Straße und trat unter das Vordach des Bahnhofsgebäudes.
»Ich weiß nicht«, antwortete sie. »Ich versuche, das Ganze zu verstehen …«
»Tut mir leid, dass ich Elia mit reingezogen habe.«
»Sie haben deine Tochter entführt. Was hättest du tun sollen?«
»Das frage ich mich auch immer wieder.« Salviati verschloss den Tabakbeutel und sah auf den Fahrplan. »Was hätte ich tun sollen?«
Francesca wich ein Stück zur Seite, um eine Gruppe Jugendlicher vorbeizulassen. Trägertop, Bikini und Flipflops an den Füßen. Offenbar waren sie auf dem Weg zum städtischen Freibad oder ins Tessin. Sie lachten und schlugen sich mit ihren Handtüchern. Francesca beobachtete die Szene wie eine Gefangene, die eine Baumgruppe hinter den Gefängnismauern erspäht. Alles war wie immer. Die Stadt, der Sommer, das Getümmel im Schwimmbad. Während sie ihre Zeit mit einem Berufsdieb verbrachte. Mit einem, der nach Zürich fuhr, um in das Computersystem einer Bank einzudringen.
Francesca schüttelte den Kopf und sah ebenfalls auf den Fahrplan.
»In zwei Minuten kommt dein Zug«, sagte sie zu Salviati. »Der Cisalpino auf Gleis eins. Ist in Zürich alles klar?«
»Ja. Elia hat gute Arbeit geleistet und alles organisiert. Auch wenn …«
Francesca sah ihn an.
»Auch wenn es ihm etwas schwerfällt. Er ist solche Dinge nicht gewohnt.«
»Ja, das stimmt.«
»Du musst versuchen, ihm beizustehen!«
»Ja, das tue ich.«
Francesca war diejenige, die den Leuten beistand. Das konnte sie gut. Sie hatte ihrer Mutter beigestanden, bevor sie gestorben war. Dann Lorenzo, ihrem Freund vor Contini. Und schließlich Contini, wenn er mal wieder in Schwierigkeiten steckte. Ausgerechnet sie, die keine Abenteuer mochte! Francesca war anders als die Cortis. Sie liebte nichts mehr, als mit einem guten Buch und einer Tasse Schokolade zu Hause zu sitzen. Sie gab Salviati die Hand und sagte:
»Mach dir keine Sorgen. Wir werden durchhalten.«
Salviati nahm die Pfeife aus dem Mund und lächelte ihr zu.
»Davon bin ich überzeugt. Danke.«
Dann begab er sich, ohne ein weiteres Wort, zum Gleis eins. Francesca sah ihm hinterher. Ein leicht gebeugter Mann, der mit schnellen Schritten voranlief und Rauchwölkchen aus seiner Pfeife aufsteigen ließ. Und dieser Mann würde eine Schweizer Bank um zehn Millionen Franken erleichtern.
Besser nicht dran denken.
Francesca wandte Salviati den Rücken zu und suchte den nächsten Zug nach Locarno heraus.
Banks are going, banking is coming.
Reto Koller kannte alle Slogans. So ist das heutzutage, dachte er, während er durch das Fenster auf das graue Wasser der Limmat sah. Heutzutage ist Reichtum nicht mehr in einem Safe verschlossen.
Die Banken haben sich verändert. Zum Glück.
Koller hatte seine Karriere auf der Flüchtigkeit des Geldes aufgebaut. Einmal draußen aus der Schatzkammer, verteilt sich der Reichtum. Geldwerte fließen durch das Internet, werden umgetauscht und virtuell in eine Handvoll Bytes verwandelt. Eine Bank ist nicht mehr ein konkreter Ort, sondern ein Netz aus Kontakten und Transaktionen.
Die Bank ist überall.
Es begann zu regnen. Koller trat vom Fenster zurück. Was für ein Wetter. Was für eine Stadt. Wie immer Anfang September war der Sommer in Zürich mit einem Schlag vorbei. Als wenn irgendwo jemand einen Knopf drücken würde. Erster September. Klick. Und Zürich wechselt in den Herbstmodus.
Von Kollers Büro führte eine Tür in den Open Space. Auch das war eine Neuerung. Früher arbeiteten die Leute alle in ihrem eigenen Bereich, mit dem eigenen Schreibtisch und den eigenen Akten. Koller betrat das Großraumbüro. Es war kurz vor sechs, die meisten Schreibtische waren nicht besetzt. Heutzutage hat jeder seinen Computer-Account, und es
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