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Die letzte Nacht

Die letzte Nacht

Titel: Die letzte Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Fazioli
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schwenkte die Angelrute wie eine Peitsche hin und her und ließ das Handgelenk dabei starr. Dann hielt er plötzlich in der Bewegung inne, sodass die Schnur sanft auf dem Wasser landete, wie ein fliegendes Insekt. Als die Strömung sie ergriff, holte Salviati erneut zum Wurf aus und zielte auf die Luftblasen, die er in der Flussmitte entdeckt hatte.
    Er kannte diesen Fluss gut. Im Grunde war er noch immer hier zu Hause. Aber je mehr Zeit verstrich, desto stärker verspürte Salviati Sehnsucht nach der Provence. Er hatte sich dieses Leben, das Recht auf Normalität, hart erkämpft. Nun war er im Begriff, alles aufzugeben. Denn im Grunde wusste Salviati, dass man in der Schweiz nicht zehn Millionen rauben kann, ohne sich erwischen zu lassen.
    Nur, dass er keinen Rückzieher machen konnte.
    Lina war seine Tochter. Salviati bewegte sich ein paar Schritte und warf die Angel erneut aus. Vielleicht war die Fliege, die er am Haken befestigt hatte, zu auffällig, um einen Fisch zu täuschen.
    Lina ist meine Tochter, dachte er, wobei er die Worte innerlich deutlich aussprach.
    Sie waren sich fremd geworden im Lauf der Zeit, aber Salviati hatte sich nie von der Angst befreit, Vater zu sein. Als er im Gefängnis saß, hatte er die Nächte mit dem Gedanken verbracht: Meine Tochter wächst heran, verändert sich, und ich bin hier. Kaum war er entlassen worden, hatte er einen Annäherungsversuch gewagt. Aber sie war herangewachsen, hatte sich verändert. Und sie war weit fort. Jedes Mal, wenn er an sie dachte, kam die Angst wieder. Und Salviati kam wieder ins Gefängnis. Irgendwann vergingen die Sorgen, das Leben gewann wieder die Oberhand. Jetzt vergingen die Sorgen nicht mehr. Aber Salviati war alt geworden, er war nur noch ein alter Gärtner, der verschiedene Rosensorten unterscheiden und zum Fliegenfischen gehen konnte.
    Und selbst das nicht, denn wie es schien, hatte er nicht einmal die Fliege richtig hinbekommen. Am Abend zuvor hatte er einige Exemplare vorbereitet, die er, an die Jacke geheftet, bei sich trug. Er wählte ein kleines und befestigte es am Haken. Das Wichtigste beim Fliegenfischen ist die Nachahmung der Wirklichkeit. Je natürlicher du bist, desto mehr Fische beißen an. Alles ist vorgetäuscht: der Köder, der Wurf, der Anblick der Fliege für den Fisch. Aber alles muss echt wirken.
    Er unternahm zwei weitere Würfe, verlagerte seine Position um ein paar Schritte. An dieser Stelle wurde der Fluss etwas breiter, die Vegetation spärlicher. Der Anblick des Wassers beruhigte Salviati. Das war eines der Dinge, die er an der Schweiz mochte. Von den Gletschern bis zu den großen Seen, von den Wasserfällen bis zu den Gebirgstümpeln: Überall gab es Wasser, wie ein Zeichen von Leben, von Freiheit.
    Er spürte den Zug auf der Rute. Diesmal hatte es geklappt. Er ruckte kräftig, um die Beute festzuhaken. Dann ließ er ein bisschen Schnur nach. Er verteilte das Gewicht auf beide Beine und begann einzuholen. Ganz allmählich, um den Fisch auf diese Weise zu ermüden. Er musste ziemlich dick sein, denn sobald Salviati ihm ein wenig Spiel ließ, fing er an, wie verrückt zu ziehen.
    Ab einem bestimmten Punkt leistete er keinen Widerstand mehr. Salviati zog ihn weiter heran und hielt den Kescher bereit, um ihn aus dem Wasser zu holen. Am Ende hatte er es doch geschafft, ihn an die Angel zu bekommen. Seine falsche Fliege war auf dem Wasser gelandet wie eine echte Fliege, der Fisch hatte sie verschluckt, und nun …
    Ein Ruck.
    Salviati begriff nicht gleich. Das Geräusch von zerreißender Schnur. Die Hand viel leichter. Das Losschnellen des Fisches war so plötzlich gekommen, dass Salviati dachte, die Angelschnur habe sich verfangen. Aber dann wurde ihm klar: Der Fisch hatte sich besinnungslos gestellt und seine Kräfte für einen letzten Fluchtversuch gesammelt.
    Er holte die Schnur ein und murmelte leise vor sich hin. Was nicht sein sollte, sollte eben nicht sein. Da ließ sich nichts machen. Er befestigte eine weitere Fliege an der Schnur, die so ähnlich aussah wie das Exemplar, das der Fisch ihm entwendet hatte. Und es war genau in diesem Augenblick, während er den Knoten band, dass ihm die Idee kam. Ohne Vorwarnung, denn er dachte an ganz andere Dinge. Aber in gewisser Weise hatte sie mit dem Fluss und dem Angeln zu tun. Eine komplizierte Idee. Aber immerhin eine Idee.
    Der Überfall war machbar.
    Salviati stand reglos mitten im Fluss. Es ließ sich machen. Das Wasser murmelte um ihn herum. Die Sonne stand bereits

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