Die letzte Nacht
konnte nicht warten. Er erhob sich, sah Salviati und Contini in die Augen.
»Ich werde keinen Rückzieher machen. Ebenso wenig wie ihr. Die Untersuchung der Sicherheitsabteilung wird ins Leere führen, vorausgesetzt, eure Informationsflüsse …«
»Wir haben keine Spuren hinterlassen«, erklärte Salviati. »Wir benutzen korrekte Passwörter.«
Offenbar war Salviati doch noch nicht zu alt. So kannte ihn Forster: mit barscher Stimme und der entschlossenen Miene eines Menschen, der kein Blatt vor den Mund nimmt.
»Jedenfalls«, schaltete sich Contini ein, »greifen wir von außen an, haben also nichts zu befürchten. Aber Marelli hat dort gearbeitet. Wenn sie entdecken, dass er über Informationen verfügt …«
Forster schnaubte. Die beiden zusammen machten es einem nicht gerade leicht. Er hob die Arme, wie um sich zu ergeben.
»Schon gut, ich lass euch mit Marelli sprechen. Aber ihr organisiert diesen Coup ohne Widerrede, okay?«
»Und Lina?«, fragte Salviati.
»Was soll mit Lina sein?«
»Du willst sie doch nicht bis Dezember gefangen halten!«
»Warum nicht?«
»Weil …«
»Wenn ich sie freilasse, machst du dann noch den Überfall?«
Salviati antwortete nicht.
Es war ein ziemlicher Schlamassel, aber Forster hatte keine andere Wahl. Allerdings würde es nicht leicht sein, das Mädchen drei Monate lang versteckt zu halten. So gesehen waren zehn Millionen das Minimum, das er brauchte, um die Ausgaben zu bezahlen und die Halsabschneider loszuwerden.
»Ich werde sie gefangen halten, aber ich verspreche dir, dass ich sie gut behandle.«
»Drei Monate!«, protestierte Salviati. »Das geht nicht!«
»Ich kann nicht anders. Tut mir leid.«
Er musste auf den Spielregeln beharren. Die beiden wussten ja noch nicht, dass Forster plante, sie übers Ohr zu hauen. Für ihn gab es keinen anderen Weg mehr. Er musste sich die zehn Millionen beschaffen und sich dann ihrer und dieser ganzen Geschichte entledigen. Forster war im Lauf seiner Karriere schon oft gestolpert und hatte sich immer wieder berappelt. Es kam nur darauf an, im richtigen Augenblick die richtigen Entscheidungen zu treffen.
»Letztlich haben wir alle ein gemeinsames Ziel«, beschwichtigte er die beiden Männer, während er sie zur Tür begleitete. »Du, Salviati, wirst deine Tochter zurückbekommen und dazu ein wenig Geld, ich bekomme zurück, was sie mir schuldet und …«
Forster unterbrach sich.
»Und du Contini?«, fragte er mit einem Grinsen. »Was bringt dich eigentlich dazu mitzumachen? Brauchst du Geld?«
Contini antwortete nicht und verzog keine Miene. Aber Forster, der ein feines Gespür für Nuancen hatte, bemerkte etwas im Blick des Detektivs. Irgendwie war er ihm zu nahe getreten. Er beschloss, noch eins draufzusetzen.
»Na, Contini? Verrat mir doch, wieso du diesen Überfall machen willst.«
3
Angst
Anna Corti wohnte in Daro, einem Stadtteil im Norden von Bellinzona, und sie fuhr mit dem Fahrrad zur Arbeit. Sie mochte es, die Innenstadt zu durchqueren, über das rötliche Natursteinpflaster zu holpern, die vertrauten Gesichter vor den Geschäften und an den Tischen der Bars zu sehen. Manchmal, wenn sie zeitig dran war, gönnte sie sich selbst einen Kaffee. Plauderte ein wenig. Über das Wetter, über Familienangelegenheiten oder Neuigkeiten aus der Stadt. Diese Gespräche wirkten entspannender als eine Massagesitzung.
Rings um die Bibliothek war die Stadt lebendig. Anna saß hinter der Theke und sah Studenten kommen, Rentner und Damen, die ein Buch für den Ehemann suchten: »…wo er doch nie zu Ende liest, wissen Sie, da werd ich doch nicht extra eines kaufen.« Die Bibliothek lag in der Nähe des Flusses Tessin, ein wenig außerhalb des Zentrums. Oft nahm Anna ihr Mittagessen in einer Plastikdose von zu Hause mit. Dann spazierte sie am Fluss entlang und setzte sich zum Essen auf eine Bank. Weiter weg, auf der anderen Seite des Gewässers, dröhnte die Autobahn.
»Du siehst ein bisschen erschöpft aus …«
»Wer, ich?«
»Na, wer denn sonst?«
Anna lächelte.
»Entschuldige, nein, ich bin nur ein bisschen zerstreut.«
Renata verbrachte die Mittagspause oft gemeinsam mit Anna. Auch sie ging gerne am Fluss spazieren. Sie arbeitete nicht in der Bibliothek, aber im selben Gebäude, wo sie Unterlagen für das Staatsarchiv ordnete. Anna legte sich einen Grund zurecht, zerstreut zu sein.
»In letzter Zeit streite ich häufig mit Filippo. Er beklagt sich oft.«
»Er beklagt sich?«
»Er beklagt sich über alles, genau
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