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Die letzte Nacht

Die letzte Nacht

Titel: Die letzte Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Fazioli
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spürt man die Wärme, die sich tagsüber angestaut hat. Im dichten Unterholz, im Schatten der Brombeerbüsche, sitzt die Feuchtigkeit; und durch die Luft zieht der Wind, der einen frösteln lässt. Im Wald ist der Sommer nicht mit einem Schlag vorbei, aber im September spürt man etwas, das im Juli noch nicht da war. Eine Art größere Ruhe. Als würde die Natur ernster werden. Salviati blieb stehen und lauschte.
    »Man hört kein einziges Geräusch.«
    »Ja, es gibt solche Momente«, antwortete Contini. »Aber wenn du eine Weile lauschst …«
    Nach ein paar Sekunden drang der kurze Schrei einer Eule herüber. Ein Rascheln von oben. Dann ein dumpfer Schlag. Dann …
    »Da! Das war ein Fuchs … horch!«
    Aus der Ferne kam ein Bellen, erst tief, fast verhalten, dann immer durchdringender, wie ein Heulen. Contini sagte:
    »Ich weiß vielleicht, wo er ist.«
    Sie liefen langsam, legten lange Pausen ein. An einem bestimmten Punkt hörten sie von rechts den erstickten Ruf eines Rehs. Dann das Geräusch von raschelndem Laub, niedergetrampeltem Erdreich. Erneut der Schrei der Eule.
    »Um diese Zeit gehen die Jungen fort«, flüsterte Contini. »Es wird eines der letzen Male sein, dass ich sie sehe.«
    Im Wald verändert der Winter dein Leben. Die Tiere wissen das. Und sie wissen, dass im September nicht mehr gespielt wird. Es ist die Zeit, in der die Füchse, die im Frühjahr geboren wurden, losziehen, um sich ihr eigenes Revier zu suchen. Contini blieb neben einem Kastanienbaum stehen, bückte sich und betrachtete den Boden. Mit der Taschenlampe leuchtete er auf einige spärliche Exkremente.
    »Die hatten hier einen Bau, vor ein paar Wochen.«
    »Und jetzt?«
    »Ich glaub, wir sind dicht dran, lass uns hier warten.«
    Sie versteckten sich hinter einem Busch, von dem aus sie in eine weiter unten gelegene Senke sehen konnten. Contini bereitete seine Kamera vor. Nach einiger Zeit hörten sie das Geräusch von Schritten. Ein Tier, das rannte. Plötzlich blieb es stehen, irgendwo unterhalb von ihnen.
    »Es wittert«, wisperte Salviati. »Es wird uns entdecken.«
    »Kann sein. Anfangs waren wir sicher, aber der Wind dreht.«
    »Und jetzt …«
    »Horch, es bewegt sich.«
    Die alte Füchsin näherte sich vorsichtig. In der Schnauze hielt sie einen Maulwurf. Aber sie war bereits gesättigt. Kurz zuvor hatte sie einen Hasen gerissen, deshalb wollte sie den Maulwurf aufheben. Es gab ein Versteck unten in der Senke. Sie blieb stehen und schnupperte in der Luft. Eine andere Füchsin war hier entlanggekommen. In diesem Sommer waren am Rande ihres Reviers zwei oder drei jüngere Tiere aufgetaucht, sie hatten Nachwuchs bekommen. Jetzt waren die Kleinen fort. Aber die alte Füchsin würde bleiben. Dieser Wald war ihr Zuhause.
    Plötzlich erstarrte sie und duckte sich auf den Boden.
    Jemand war auf der anderen Seite. Die Füchsin spitzte die Ohren, spannte alle Sinne an. Dann erkannte sie den Geruch. Der würde nichts tun, die Füchsin kannte ihn.
    Aber es waren zwei Gerüche, und der andere war neu.
    Sie war eine vorsichtige alte Füchsin und hätte beinahe die Flucht ergriffen. Doch am Ende beschloss sie, sich langsam vorzuwagen. Man durfte nur nicht zu dicht herankommen, musste sich zum Versteck schleichen, den Maulwurf vergraben und dann fliehen. Sie wusste, dass der erste der beiden Gerüche mit Lichtblitzen zusammenhing, die nicht wehtaten. Sie wusste, dass die Senke einen seitlichen Durchschlupf hatte, von wo aus sie durch einen hohlen Baumstamm kriechen und auf einem Felsen ihre Fährte verwischen konnte. Sie wusste das alles, denn es war ihr Revier.
    Die Füchsin stieg mit kurzen Schritten in die Talsenke hinab, immer auf der Hut, bis sie das Versteck erreicht hatte.

ZWEITER TEIL
    Der Überfall

1
Wie man einen Fisch an die Angel bekommt
    Jean Salviati liebte den Anblick von Flüssen. Schon als Junge hatte er am Flussufer gesessen und sich vom Wasser verzaubern lassen. Später, während seiner Angelstreifzüge, hatte er gelernt, das Leben im Fluss zu deuten. Die Luftblasen, die von der Gegenwart eines Fisches zeugen. Die überwucherten Teile. Die Insektenschwärme, die über dem Wasser schweben, genauer gesagt die Eintagsfliegen, die es nachzuahmen gilt, wenn man die Beute hinters Licht führen will.
    An diesem Tag Mitte September war Salviati, da er nicht wusste, was er sonst tun sollte, zum Angeln gegangen. Er trug eine Sportjacke mit vielen Taschen, eine alte Stoffkappe und Stiefel, die bis zu den Schenkeln reichten. Er

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