Die letzte Nacht
vollkommen legale Weise jemanden einschleusen.
»Vielleicht habe ich eine Idee.«
Salviati sah ihn fragend an. Contini lächelte.
»Na ja, auch ich hab meine kleinen Geheimnisse …«
»Ach komm!«
»Zuerst muss ich noch ein paar Details überprüfen.«
»Wann weißt du, ob es machbar ist?«
»In ein paar Tagen. Ungefähr dann, wenn wir Marelli treffen.«
»Warten wir’s ab. Ich will kein Risiko mehr eingehen. Ich kann nicht länger mit Lina spielen, verstehst du?«
Contini nickte und gab Giocondo ein Zeichen, zwei Tassen Kaffee zu bringen.
»Ich habe zu viel gespielt«, fuhr Salviati fort. »Bevor Lina auf die Welt kam, hatten Évéline und ich eine Menge Pläne. Hab ich dir schon davon erzählt?«
»Nein … nicht von den Plänen.«
»Aber ich habe dir von meiner Frau erzählt. Évéline ist in dem Dorf in der Provence aufgewachsen, wo ich lebe. «
Contini bemerkte, dass Salviati die Stimme gesenkt hatte, obwohl das Grotto beinahe vollkommen leer war. Auch wenn die Sonne scheint, steigt im September von den Bergen die Feuchtigkeit herab. Die beiden saßen an einem abseits, beinahe am Fuß der Felswand gelegenen Tisch und hatten ihre Jacken übergezogen.
»Ich wollte schon damals mein Leben verändern, mir eine Arbeit suchen. Eine Tochter, eine Familie, ich war vollkommen aus dem Häuschen. Es war, als würde ich wieder zum Kind, aber auch, als würde ich endlich erwachsen.«
Salviati hielt die Kaffeetasse in den Händen, als wolle er sie vor den Unbilden der Witterung schützen.
»Aber du weißt, wie es geht. Lina wurde geboren, und ich hab meinen Entschluss aufgeschoben. Die erste Zeit brauchte ich Geld. Dann ist Évéline … dann ist meine Frau gestorben.«
»Wie ist das passiert?«, fragte Contini.
»Ein Unfall. Mit dem Auto. Anfangs hat ihre Familie mich unterstützt. Aber ich ertrug es nicht länger, dort zu bleiben. Ich habe weiter gestohlen und Lina mitgenommen. Ich habe mit ihrem Leben gespielt, verstehst du, das ist es, was ich getan habe …«
»Am Ende bist du zurückgekehrt.«
»Erst bin ich ins Gefängnis gekommen. Ich musste Lina allein lassen, die in der Zwischenzeit ganz auf sich gestellt war … und in Schwierigkeiten geriet. Dann bin ich zurückgekehrt, ja, zurück in Évélines Dorf. Nur dass Lina nicht bei mir war.«
»Wann ist sie fortgegangen?«
»So nach und nach, wie immer. Sie wollte nicht, dass ich ein anderes Leben führe. Eine komische Geschichte, was?«
Contini nickte, während er seinen Kaffee trank.
»Immerhin habe ich sie jetzt wiedergefunden. Mitten in diesem ganzen Durcheinander habe ich meine Tochter wiedergefunden. Und ich will sie nicht noch einmal verlieren.«
»Wir werden sie nicht verlieren.« Contini legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Du wirst sehen, wir werden sie nicht verlieren.«
Lina Salviati fiel es schwer, die Tage zu zählen. Nach kurzer Zeit begannen sie zu verschwimmen, einer dem andern zu gleichen. Seit wann waren sie in Gefangenschaft? Seit einem Monat? Einem Jahr? Zehn Jahren? Man konnte sich leicht gehen lassen, das letzte bisschen Besonnenheit aufgeben. Aber sie versuchte, mit beiden Beinen auf dem Boden zu bleiben, und tat so, als glaube sie an Matteos Idee.
»Es ist unsere letzte Gelegenheit«, sagte er zu ihr. »Wir müssen deinem Vater und Contini eine Botschaft zukommen lassen, ihnen ein Zeichen geben.«
»Nicht so einfach …«
»Wir müssen uns etwas ausdenken.«
Lina hatte keine Worte, um ihr Verhältnis zu Matteo zu beschreiben. Wenige Wochen zuvor war er ein Fremder gewesen. Dann hatten sie diese langen Tage im Bavonatal miteinander verbracht, bis sie gemeinsam die Flucht gewagt hatten … Und jetzt? Jetzt verstrichen die Tage, und sie bekam niemanden zu Gesicht, außer Matteo und Elton, Elton und Matteo. Die ganze Zeit eingesperrt in diesen vier Zimmern in Tesserete, in einem Haus nicht weit von Forster entfernt. Sie und Matteo waren wie ein Wesen geworden, das mit zwei Köpfen denkt. Sie errieten gegenseitig ihre Gedanken, ihre Ängste und Wünsche. Wurden sie allmählich zu einem Monster?
»Ich weiß nicht, ob ich es noch lange aushalte«, sagte sie zu Matteo und malte sich seine Antwort aus.
»Trotzdem …«, begann er. Aber er wurde von Elton unterbrochen. Forsters Mann war in letzter Zeit weniger förmlich. Er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, Befehle zu erteilen oder Türen plötzlich aufzureißen. Er wandte sich den beiden mit dem Ton desjenigen zu, der keine Zeit zu verlieren hat:
»Seid ihr
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