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Die letzte Nacht

Die letzte Nacht

Titel: Die letzte Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Fazioli
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die Jugend, das Erwachsenenalter, und der Vater bleibt wieder allein, muss sich mit ein paar geflüsterten Worten am Telefon begnügen.
    »Was kann ich nicht verstehen, Lina?«
    »Wenn wir uns wiedersehen … wenn wir uns wiedersehen, wird alles viel leichter sein.«
    Sie hatten sich im leeren Raum verloren. Deshalb klammerten sie sich an Worte über die Vergangenheit und die Zukunft. Aber es war eine Illusion: Die Vergangenheit existierte nicht, es war die Erinnerung an barsche Worte und Monate der Gleichgültigkeit. Was die Zukunft betraf …
    »Bist du sicher, dass dir gelingt, was sie von dir wollen?«
    »Natürlich, wir sind dabei, die Sache vorzubereiten. Du wirst sehen, alles geht gut.«
    »Aber wie willst du es machen? Weißt du schon, wann?«
    »Ja, es ist alles bereit, Lina. Du wirst bestimmt bald freikommen.«
    »Und musst du nicht zurück in die Provence?«
    »Ich werde beizeiten zurückkehren. Hör zu, du darfst dich nicht gehen lassen, hast du verstanden? Ich weiß, wie anstrengend das ist, ich weiß, dass es in der Gefangenschaft schwierig ist, nicht das Schlimmste zu befürchten.«
    »Ich hätte nie gedacht, dass es …«
    Lina war den Tränen nahe. Salviati hatte sie noch nie so erlebt. Er hatte sie allein großgezogen; aber es war ihm nie gelungen, einen wunden Punkt zu finden, an dem er hätte ansetzen können, um seine Tochter zu verstehen. Als sie noch ein Kind war, hatten sie ihren Spaß, ihre Gewohnheiten gehabt. Aber dann war sie herangewachsen. Und eine Gewohnheit kann sich zu etwas entwickeln, hinter dem man sich versteckt.
    »Du musst dich zwingen, in kleinen Schritten zu denken, Lina. Du musst an die nächste Stunde denken, in der Nacht an den nächsten Morgen, am Vormittag an den Nachmittag. Lassen sie dich nie raus?«
    »Ab und zu. Aber nicht mehr so oft wie am Anfang.«
    »Ist es da, wo ihr seid, zu gefährlich?«
    Schweigen.
    »Ich … ich darf nichts sagen.«
    »Ja, natürlich.«
    »Du musst mir etwas versprechen, Papa.«
    Papa. Salviati hatte das Gefühl, dreißig Jahre zurückversetzt zu werden.
    »Schieß los.«
    »Wenn es zu schwierig wird, sagst du es Forster? Sagst du ihm, dass es unmöglich ist?«
    »Lina …«
    »Was soll ich machen, wenn sie dich schnappen?«
    »Sie schnappen mich nicht, Lina.«
    Schweigen. Irgendjemand sagte etwas zu ihr.
    »Ich muss jetzt Schluss machen. Sie lassen mich morgen wieder anrufen.«
    »In Ordnung«, Salviati gab sich Mühe, unbeschwert zu wirken. »Weißt du, dass ich mittlerweile mit diesem Handy zurechtkomme? Wer hätt’s gedacht …«
    Aber Lina war bereits nicht mehr dran. Die Stille verriet Salviati, dass das Gespräch beendet war. Sie endeten immer so, ganz unvermittelt. Und er blieb mit dem Gefühl zurück, zu wenig gesagt zu haben, obwohl er tausend Dinge auf dem Herzen hatte, die er Lina mitteilen wollte. Ratschläge und Gedanken, um ihr zu helfen, Erklärungen, Worte, ganz einfach Worte, um einen Weg, einen Pfad zwischen den Abgründen der Vergangenheit und der Zukunft zu finden.
    In letzter Zeit kamen die Flöße nicht mehr an. Der Tresalti führte kaum Wasser, da es lange Zeit nicht geregnet hatte. Aber insgeheim befürchtete Contini, dass die Untiefen des Baches seinen seelischen Zustand widerspiegelten. Der Wunsch zu fliehen, sich zurückzuziehen in die klaren Abläufe des eigenen Lebens. Keine Kunden, keine Überfälle, keine Worte.
    Er ließ rasch hintereinander fünf Flöße ins Wasser gleiten. Die Strömung trieb sie aus dem kleinen Becken, einen Wasserfall hinab. Dann verlor Contini sie aus den Augen.
    Es war sechs Uhr abends. Der September verging wie im Flug, ein Tag glich dem anderen. Die warme Sonne, ein starrer Punkt am Himmel, nirgends eine Wolke und nur am Abend ein wenig Wind. Contini betrachtete ein paar Minuten lang das Sprudeln des Tresalti, dann wandte er sich ab und ging nach Hause.
    Unter dem Vordach wartete der graue Kater. Er ließ ihn hinein und machte es sich in der Hängematte bequem, die in einer Ecke im Wohnzimmer hing. Ringsum die gewohnte, beruhigende Unordnung: Fotos von Füchsen, angeschlagene Vasen, Korbsessel … Contini schaffte es nicht, liegenzubleiben, er musste seiner Unruhe Luft machen und erhob sich. Der Kater beobachtete ihn unschlüssig von der Schwelle aus.
    Du wirst doch nicht etwa Angst vor dem Banküberfall haben, Contini? Und wenn schon! Hab ich etwa kein Recht dazu? Er warf einen Blick auf die Kakteensammlung, streifte über die Stacheln eines Aporocactus und beschloss, den Kamin

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