Die letzte Nacht
sprichst!«
»Seltsam«, Giona begann, mit dem Schürhaken im Kamin zu stochern. »Seltsam, denn ich hatte diesen Eindruck, nach dem, was du mir in den letzten Wochen erzählt hast.«
Salviati suchte eine bequemere Haltung in dem lädierten Sessel, in dem er Platz genommen hatte. Die Anspielungen des alten Giona ließen ihn unruhig werden. Als habe er irgendetwas übersehen. Er spürte, dass sich in dieser verrauchten, mit alten Büchern und Jagdtrophäen vollgestopften Hütte eine Wahrheit verbarg. Aber wie es schien, war nicht einmal Giona in der Lage, sie zu entdecken.
»Welchen Eindruck?« fragte er ihn.
»Ich weiß nicht«, Giona schien besorgt. »Ich komme nicht drauf. Ihr beide, der Überfall, das Geld, die andern, die euch helfen, die Cortis … auf einer Seite seid ihr. Dann ist da Luca Forster, der Geld braucht, deine Tochter und Matteo Marelli … was kann passieren?«
Schweigen.
»Schwer zu sagen«, murmelte Salviati, während er seine Pfeife stopfte.
»Ja«, Giona wiegte den Kopf hin und her. »Als habe die Glocke einmal geschlagen und ein weiterer Schlag müsse noch folgen.«
»Ein weiterer?«, warf Contini ein.
Aber Giona murmelte etwas vor sich hin.
»Ja, es ist seltsam. Als wäre die Musik nicht vollständig …«
15
Die letzte Nacht
Um drei Uhr morgens waren Contini und Salviati in Bellinzona. Die Straßen im Stadtteil Ravecchia waren verlassen, nur von weihnachtlichem Licht belebt. Aus jedem Garten leuchtete ein Stern, rote und weiße Glühlampen hingen von jedem Balkon. Es gab nur sie. Als wären es lebendige Geschöpfe.
Die Sprache der Weihnachtslichter.
Wie eine verschlüsselte Botschaft, dachte Contini, während er auf Salviati wartete. Die ganze Nacht lang an und aus, an und aus. Auch im Garten der Bellonis stand ein leuchtender Weihnachtsmann. Ein dickbäuchiger kleiner Mann, der am Fallrohr der Regenrinne emporkletterte.
Beinahe wie ein Dieb.
Und genau in diesem Moment lief Jean Salviati über den Flur im ersten Stock. Er bewegte sich langsam, als habe er stundenlang Zeit. Ein Fehler zu diesem Zeitpunkt hätte sich auf die gesamte Operation ausgewirkt. Salviati hatte über jedes Detail aus dem Leben Giacomo Bellonis, des Direktors der Junker-Filiale in Bellinzona und fürsorglichen Familienvaters, Informationen eingeholt.
Er wusste, dass die Kinder nicht zu Hause, sondern bei den Großeltern übernachteten, da die Eltern zum Weihnachtsessen der Bank gegangen waren. Das war entscheidend. Er wusste, dass Direktor Belloni und seine Frau in einem nach hinten gelegenen Zimmer schliefen und dass man dieses Zimmer auch vom Bad aus betreten konnte, das sich neben der Garderobe befand.
Salviati wusste all das und noch mehr. Er kannte den Grundriss des Hauses und der Bank. Er wusste alles über Belloni. Er hatte auch über Giuseppe Locatelli, den Wachmann, der am selben Morgen den Direktor und die Männer mit dem Geld empfangen würde, Informationen eingeholt.
Salviati war bereit. Nach monatelangem Warten war dies der Augenblick, in dem er die Operation Junker-Bank ins Rollen brachte.
Bellonis Haus lag still. Wenn er innehielt, konnte er beinahe das Ächzen der Dielen und das Brummen der Heizkörper hören. Zum Glück war die Tür nicht durch eine Alarmanlage gesichert. Mit Continis Hilfe war es nicht schwer gewesen hineinzugelangen. Während Salviati den Flur entlanglief, dachte er noch daran, wie er Elias Leben umgekrempelt hatte, als er an einem Sommerabend bei ihm hereingeplatzt war.
Aber jetzt lagen die Karten auf dem Tisch. Er durfte sich keine Gedanken mehr über die Nervosität, über die Gefahr, dass den Amateuren die Nerven durchgingen, über die erdrückende Last des Wartens machen. Jetzt konnte er nur noch hoffen, dass alles schnell zu Ende ging und zumindest Elia danach in sein altes Leben zurückfand.
Aber er wusste, dass es nicht leicht werden würde.
Weder für ihn, noch für Elia. Ein großer Coup verbindet und trennt, er verändert die Menschen und zerstört das Alltagsleben.
Wir müssen dennoch durchhalten, dachte Salviati.
Im selben Augenblick drückte er eine der Türklinken im Flur hinunter.
Die Lunte war gezündet. Selbst wenn sie gewollt hätten, wäre ein Rückzug zu diesem Zeitpunkt kaum noch möglich gewesen. Das verschaffte Contini ein merkwürdiges Gefühl der Erleichterung.
Nachdem sie Bellinzona verlassen hatten, war Salviati in seine Wohnung auf dem Monte Ceneri zurückgekehrt. Es blieben ihm ein paar Stunden, um sich mit Hilfe eines seiner
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