Die letzte Nacht
bohrende Frage. Bilde ich mir das alles nur ein, weil ich mich vor dem Überfall drücken will? Nein, antwortete er, nein, das stimmt nicht. Ich glaube, ich weiß jetzt, wo Lina Salviati und Matteo Marelli sind. Und ich will versuchen sie zu befreien.
Er nahm das Telefon und rief erst Salviati, dann Francesca an.
Der Plan würde im letzten Augenblick eine kleine Änderung erfahren müssen.
Ab einem gewissen Alter sollte man Vernunft annehmen. Dieser Ansicht war Francesca schon immer gewesen. Aber während sie sich um drei Uhr morgens im Bett herumwälzte, dachte sie darüber nach, weshalb sich manche Ansichten immer vom echten Leben unterschieden. Sie war fast dreißig Jahre alt und im Begriff, dem helvetischen Bankensystem zehn Millionen zu stehlen.
Warum konnte sie nicht einfach ein ruhiges Leben führen?
Francesca knipste die Nachttischlampe an und sah auf die Uhr. Halb vier. Sie konnte noch zwei Stunden weiterschlafen, bis halb sechs. Salviati war dagegen bestimmt schon auf. Zwischen vier und sechs musste er sich vorbereiten. Sie hatte ihn gefragt, ob sie ihm helfen könne, aber der alte Dieb war der Meinung, dass es dazu eines Spezialisten bedurfte.
Um das Geld zu stehlen dagegen nicht, dazu genügte irgendeine Francesca Besson. Sie drehte sich auf die Seite, um eine kühle Stelle auf dem Kissen zu finden. Sie wagte nicht, über die Einzelheiten nachzudenken.
Vielleicht war das ihre letzte Nacht als freier, als normaler Mensch. Vielleicht würde sie sich schon am nächsten Tag in den Fängen von Polizei, Presse und ungläubigen Freunden befinden. Eine Studentin, die soeben ihr Studium abgeschlossen hat, versucht, eine Bank auszurauben. Wie viel Gelächter, wie viele halb erstaunte, halb mitleidige Blicke sie ernten würde. Aber es war richtig so. Francesca wusste, dass es das Richtige war.
Letztendlich ging es nicht darum, einer Bank Geld zu stehlen. Sie half einem Vater, die verlorene Tochter wiederzufinden. Sie half zwei alten Freunden, die ohne zu zögern ihr Leben füreinander riskieren würden.
Ja, sie tat auch etwas Verrücktes. Fünf Leute, darunter vier Amateure, die versuchten, eine Schweizer Bank hereinzulegen.
Aber obwohl sie nicht schlafen konnte, obwohl sie schwitzte und die Minuten bis zum Klingeln des Weckers zählte, war Francesca nicht unglücklich. Inmitten der Angst und Unsicherheit gab es auch eine Gewissheit, wie ein Goldkorn in einem Kieselbett.
Ich lebe.
Ich, Francesca Besson, bin eine lebendige Person.
»Danke«, sagte Jean Salviati zu Gengio und begleitete ihn zur Tür. »Hast dir dein Händchen also doch bewahrt, was?«
»Seit zwanzig Jahren hab ich mich nicht mehr mit so etwas beschäftigt …«
Außer dass er einen Handel in der Gegend von Molino Nuovo unterhielt, erledigte Gengio auch kleine damit verbundene Arbeiten. Er verkaufte nicht nur heikle Waren und Zubehör für Diebe oder Trickbetrüger, sondern verstand es auch, Fantasien Gestalt zu verleihen.
»Bevor ich nach Frankreich zurückgehe, ruf ich dich an«, sagte Salviati.
»Hm …«, murmelte Gengio. »Lass dir Zeit.«
Salviati lächelte ihm zu, während er die Tür aufhielt.
»Du hast wirklich gute Arbeit geleistet!«
»Ich habe mein Bestes gegeben«, Gengio reichte ihm zum Abschied die Hand. »Jetzt bist du dran, Salviati …«
16
Sonntag 20. Dezember
Contini war nicht da. Ein paar Telefonate am frühen Morgen hatten das Drehbuch verändert, kurz bevor es in Szene gesetzt werden sollte. Contini war in Lugano, um Lina zu befreien. Und sie waren hier, im Licht der Straßenlaternen, in Bellinzona. Die Hände in den Taschen vergraben, betrachteten sie die Fassade der Junker-Bank.
»Wir sollten uns besser beeilen«, sagte Francesca.
Filippo Corti sah sich um.
»Sieht aus wie eine Geisterstadt.«
»Alle schlafen«, meinte Anna, »außer uns.«
Drei dunkle Gestalten unter dem Bahnhofsvordach. Francesca war in eine grüne Winterjacke mit Kapuze gehüllt. Anna trug Mantel und Schal, Filippo eine Lederjacke. Jeder wusste, was er zu tun hatte.
Anna lief die Straße entlang, auf der Contini den Warnhinweis wegen Bauarbeiten hätte aufstellen sollen. Aber jetzt war der Plan geändert worden, jetzt mussten sie ohne Contini auskommen. Auch Anna hatte nun eine andere Rolle: Sie musste lediglich auf die Autos achtgeben und notfalls Alarm schlagen.
Filippo sollte derweil fahren. Seine Aufgabe war es, den Wagen auf den Straßen der Innenstadt in Bewegung zu halten und um zehn nach sieben, um Viertel nach sieben und
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