Die letzte Nonne - Bilyeau, N: Die letzte Nonne
alles bereits bekannt war.
Wenn die königlichen Kommissare morgen die Auflösung unseres Kloster beschließen würden, wie lange würde uns dann noch bleiben, bis man uns vertreiben und das Kloster dem Erdboden gleichgemacht würde? Vielleicht würde irgendein armer Tagelöhner, der sich zum Abriss der Mauern verdingt hatte, die Krone entdecken. Welche Kräfte würden in diesem Moment entfesselt werden?
Und wie würde Bischof Gardiner meinen armen Vater für mein Versagen bestrafen? Ich sah ihn wieder vor mir, wie er im Tower auf der Streckbank lag, das Gesicht von Brandmalen entstellt, Zorn und Furcht in den Augen, als er mich sah.
Ich konnte ein Aufschluchzen nicht unterdrücken. Auf der anderen Seite des Schlafraums warf Schwester Christina sich wieder herum. Vielleicht hatte ich sie gestört, vielleicht hatte aber auch die Ruhelosigkeit, die sie quälte, nichts mit mir zu tun. Zwei unglückliche Novizinnen, die das Ende der Nacht herbeisehnten.
»Schwester Christina, seid Ihr nicht wohl?«, flüsterte ich.
Sie antwortete nicht gleich, und ich glaubte, sie schliefe doch. Aber dann sagte sie: »Ich habe an Christina gedacht.«
»Ihr denkt über Eure Lage nach?«, fragte ich.
»Nein, ich habe an eine andere Christina gedacht. Ich bin sicher nicht nach ihr benannt, trotzdem muss ich oft an sie denken, weil wir den gleichen Namen tragen.«
»War sie eine Engländerin?«
»Nein, nein, sie wurde in Lüttich geboren, vor vielen hundert Jahren. Ich habe in einem der Bücher in der Klosterbibliothek übersie gelesen, als ich noch Postulantin war. Seither geht sie mir nicht mehr aus dem Sinn.«
»Erzählt«, sagte ich neugierig.
»Sie war die jüngste von drei Schwestern. Die Eltern starben, und Christina, die noch sehr jung war, musste den ganzen Tag Schafe hüten. Sie war allein und dachte den ganzen Tag an Gott. Dann wurde sie krank und starb, und ihre Schwestern ließen ihren Leichnam in der Kirche aufbahren. Während der Messe wurde sie wieder lebendig und flog wie ein Vogel zu den Dachbalken der Kirche hinauf.«
»Wie kann das möglich sein?«
»Es war Gottes Werk. Sie erklärte es ihren Schwestern, als sie wieder herabgeflogen kam. Sie war an einen Ort des Feuers und der Qualen gebracht worden, wo überall um sie herum Menschen schrien, die ihr herzlich leid taten. Danach wurde sie an einen Ort noch schlimmeren Schmerzes und unvorstellbaren Leids versetzt. Und schließlich gelangte sie in einen Thronsaal, wo alles schön und friedlich war. Dort sprach Gott zu ihr und erklärte ihr alles. Der erste Ort war das Fegefeuer gewesen, der zweite die Hölle, und nun befand sie sich im Himmel. Gott ließ sie wählen. Sie konnte bei ihm bleiben oder in die irdische Welt zurückkehren und die Leiden eines Sterblichen in einem unsterblichen Leib erdulden und so die Menschen aus dem Fegefeuer erlösen, mit denen sie solches Mitleid gehabt hatte. Christina entschied sich, in die irdische Welt zurückzukehren. Und von diesem Tag an suchte sie die größten Schmerzen auf, die sie finden konnte.«
»Und sie fühlte sie nicht?«, fragte ich.
»O doch, sie fühlte sie, Schwester Joanna. Sie stürzte sich ins Feuer brennender Häuser, sie kroch in die heißen Öfen, in denen Brot gebacken wurde, sie sprang in Kessel mit kochendem Wasser, und sie fühlte
alles.
Sie litt bis zum Äußersten, aber ihr Fleisch blieb unversehrt. Ihre Haut bekam weder Wunden noch Blasen. Sie blieb stets unverletzt.«
Ich dachte einen Moment darüber nach. »Es muss grauenvoll gewesen sein, das mitanzusehen«, sagte ich dann.
»Ja, ihre Schwestern hatten große Angst um sie und hielten sie in Stricken und sogar Ketten gebunden, um sie vor sich selbst zu schützen. Sie verstanden es nicht.« Schwester Christina schwieg,und als sie wieder zu sprechen begann, kamen ihr die Worte zäh und schwer über die Lippen. Sie war dem Schlaf nahe. »Später erkannten sie, dass sie auserwählt war. Das ganze Land hörte von ihr. Sie wurde eine – Predigerin … und …«
Ich hörte ihre tiefen Atemzüge.
Das Erzählen der Geschichte hatte Schwester Christina beruhigt, mich hingegen hatte ihre Erzählung aufgewühlt. Ich fand lange nicht zur Ruhe, und als die Glocken zu den Laudes zu läuten begannen, war mir, als hätte ich nur einen Moment geschlafen.
Mir fiel auf, dass die Priorin zu den Laudes und zur Prim erschien, aber nicht zur Terz. Sie wurde wohl schon von den königlichen Kommissaren ins Verhör genommen, die dem Vernehmen nach bei
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