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Die letzte Nonne - Bilyeau, N: Die letzte Nonne

Die letzte Nonne - Bilyeau, N: Die letzte Nonne

Titel: Die letzte Nonne - Bilyeau, N: Die letzte Nonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Bilyeau
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oben. Ich konnte die Treppe nicht verlassen, und während ich dort stand, hörte ich die huschenden Ratten. So viele an der Zahl. Ich meinte, ihren Atem an meinen Beinen zu spüren.
    »Heilige Maria, Mutter Gottes, beschütze mich«, betete ich laut. Aber meine Stimme brach. Ich war ein erbärmliches kleines Menschenwesen an der Schwelle des Bösen.
    Ich holte tief Atem. Unsinn. Das waren bloß Tiere, denen man sagen musste, wo sie hingehörten.
    Ich schrie: »Ihr werdet mich nicht hindern! Ich bin Joanna Stafford und ich lasse mich nicht aufhalten!«
    Mit einem Sprung setzte ich in den Tunnel hinunter und rannte vorwärts, direkt in die Finsternis hinein. Eine Hand ließ ich die feuchte, bröckelnde Mauer entlanggleiten, die andere hielt ich vor mir ausgestreckt.
    Immer wieder sagte ich es mir vor: »Ich bin Joanna Stafford und ich lasse mich nicht aufhalten.« Ich war es leid, mich ständig zu verstecken und zu ducken. Trotz verdrängte die Furcht, und ich spürte Wagemut in mir.
    Dreimal, während ich durch die schwarze Röhre rannte, berührte mein Fuß etwas Lebendiges, einen bebenden warmen Körper. Jedes Mal stieß ich ihn zur Seite und lief weiter.
    Ich stolperte über eine Stufe und schlug beim Sturz mit dem Schienbein hart auf die Kante. Aber der Schmerz machte mir nichts aus. Ich hatte das Ende des unterirdischen Ganges erreicht.
    Nachdem ich den richtigen Schlüssel gefunden hatte, drückte ich die Tür vorsichtig einen kleinen Spalt auf. Es musste mindestens Mitternacht sein, aber die Wärter drehten die ganze Nacht hindurch ihre Runden. Das hatte Bess mir gesagt.
    Im Gang des Beauchamp Tower schimmerte Licht. Ich schob die Tür ein wenig weiter auf. Ungefähr fünfzehn Schritte entfernt, an der Stelle, wo wir zuvor auf den Wärter mit den Papieren gestoßen waren, saß, die Beine lang vor sich ausgestreckt, ein Mann, ein anderer diesmal. Die steinerne Treppe, die zu meiner Zelle hinaufführte,befand sich zwischen ihm und mir. Ich hatte keine Ahnung, wie ich unbemerkt zu ihr gelangen sollte.
    Die Hand gegen die Tür gedrückt, wartete ich unschlüssig, als ein Geräusch wie ein Röcheln mich zusammenfahren ließ. Ich ließ vor Schreck die Tür los, die aufsprang und gegen die Mauer schlug. Mit einem Ruck riss ich sie zurück und wartete mit angehaltenem Atem.
    Der Wärter rührte sich nicht. Er schnarchte.
    Ich schob mich auf den Gang hinaus und bewegte mich lautlos, Schritt für Schritt, vorwärts. Er schnarchte wieder, tief und röchelnd. Der Mann musste krank sein. Sogar seine Füße zitterten unter der Gewalt seines Schnarchens.
    Ich schaffte es zur Treppe. Die Qual war fast vorbei.
    Ich erinnerte mich der blank getretenen Stufen der Wendeltreppe von dem Tag, an dem ich hierhergebracht worden war. Aber seit jenem Nachmittag im Mai war ich die Treppe nur noch einmal gegangen, von Bess geführt und ohne auf den Weg zu achten. Ich hatte mich darauf konzentriert, die Laken vors Gesicht zu halten und als Susanna durchzugehen   – ich hatte nicht damit gerechnet, dass ich den Rückweg allein finden müsste.
    Ich hatte keine Ahnung, wie ich zu meiner Zelle gelangen sollte.
    Erinnere dich
, befahl ich mir. Erinnere dich, wie viele Treppenabsätze es waren, wo du abbiegen musst. Ich blickte angestrengt die Wendeltreppe hinauf, die sich drei Stockwerke hochwand. Meine Zelle befand sich im zweiten Stockwerk, das wusste ich, aber in welcher Richtung? Von jedem Absatz führten durch Torbögen zwei Gänge weg.
    Ich entschied mich, den linken Torbogen zu nehmen, als ich den zweiten Treppenabsatz erreichte. Nach dem Wenigen, woran ich mich erinnerte, schien er mir der richtige zu sein.
    Aber das war ein Irrtum.
    Ich brauchte eine Weile auf meinem verstohlenen Lauf durch trübe erleuchtete Gänge, ehe ich merkte, dass ich auf dem falschen Weg war. Ein hoher, frisch getünchter rechteckiger Durchgang, den ich nie zuvor gesehen hatte, bewies es mir. Ich kehrte um, suchte die Wendeltreppe, damit ich von vorn beginnen konnte. Aber ich konnte sie nicht finden.
    Erschöpft lehnte ich mich an die Mauer und drückte die Stirn gegen den Stein. Mich schwindelte vor Müdigkeit; ich konnte mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal etwas gegessen oder getrunken hatte.
    Aber ich durfte nicht verweilen. Nach einem kurzen Gebet raffte ich mich auf und begab mich von Neuem auf die Suche. Verzweifelt irrte ich durch die dunklen stillen Gänge. Ich konnte lateinische Abhandlungen übersetzen, ich sprach Spanisch und Französisch,

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