Die letzte Nonne - Bilyeau, N: Die letzte Nonne
konnte mit Zahlen umgehen, feinste Stickereien anfertigen, Musikinstrumente spielen, zu Pferd über die Felder jagen, aber mir fehlte jeder Orientierungssinn. Es erging mir jetzt nicht besser als damals, vor langer Zeit, im Irrgarten meines Onkels.
Am Ende eines langen Ganges stieß ich auf eine breite Tür und riss sie auf.
Die Nacht breitete ihre Arme aus und hüllte mich ein.
Kapitel 12
Ich war draußen im Freien, auf dem Wehrgang, auf dem ich meine wöchentlichen Spaziergänge mit dem Hauptmann absolvierte.
Tausende Sterne funkelten am klaren Oktoberhimmel, drehten sich in einem ewigen Reigen, dessen Komposition nur für Gott erfassbar war. Ich trat ein paar Schritte weiter hinaus und ging fröstelnd erst in die eine, dann in die andere Richtung. Es war lange her, seit ich das letzte Mal die Sterne gesehen hatte. Ich holte tief Atem, die feuchte, morastige Ausdünstung der Themse kam mir entgegen und mit ihr ein anderes, beißendes Aroma, das ich nicht gleich einordnen konnte. Es war nicht angenehm, aber ich kannte es, es hatte mit dem Fluss zu tun. Endlich kam ich darauf: Es war der Geruch von gebratenem Aal. Irgendjemand hatte im Fluss Aale gefangen und sie am Ufer gebraten. Es musste ein riesiges Feuer gewesen sein, wenn das Aroma so spät in der Nacht noch in der Luft hing. Ich hättenie gedacht, dass ich diesen Geruch jemals genießen würde, ich hatte Aal nie gemocht. Es schnürte mir die Luft ab, als mir plötzlich bewusst wurde, dass ich vielleicht nie wieder einen Nachthimmel sehen würde. Der Gedanke an Freiheit wurde immer unwahrscheinlicher.
Irgendwie fand ich die Kraft, zur Tür zurückzukehren, aber sie war geschlossen. Sie war hinter mir zugefallen, ohne dass ich es bemerkt hatte. Ich rüttelte mit aller Gewalt. Nichts.
Mich zur Ruhe zwingend, versuchte ich einen Schlüssel nach dem anderen. Keiner passte. Ich lief zum anderen Ende des Wehrgangs, aber auch die Tür dort war verschlossen. Ich war hier draußen auf dem schmalen Steg gefangen, Hunderte Fuß über dem Erdboden.
Von einem ungeheuren Zorn auf mich und meine Dummheit überkommen, ließ ich mich auf den Backsteinboden fallen. Die Arme um die hochgezogenen Beine geschlungen, wiegte ich mich schluchzend vor und zurück.
Zum ersten Mal überhaupt dachte ich daran, meinem Leben selbst ein Ende zu setzen, auch wenn die Vorstellung, diese schwerste aller Sünden zu begehen, mich sofort zu Tode erschreckte. Dann würde es keine Gnade geben, nur das Fegefeuer für alle Ewigkeit. Und für meine Familie wäre es eine Schande, von der sie sich niemals erholen würde. Dennoch kehrten meine Gedanken immer wieder zu dieser Möglichkeit zurück. Der Schmerz würde nicht andauern, es wäre rasch vorbei. Ich wäre endlich frei. Und Bess wäre sicher.
Nur noch ein paar Stunden, dann würden die Männer kommen, und das würde mir endgültig das Genick brechen. Aber mein Geist war ja schon gebrochen. Da konnte ich dem Herzog von Norfolk und seinem unbekannten Begleiter die Mühe auch sparen. Stundenlang hockte ich draußen auf dem Wehrgang und wagte nicht aufzustehen, weil ich fürchtete, ich würde mich in meiner Verzweiflung über die Brüstung werfen.
Natürlich betete ich. Aber es waren klägliche, kleinmütige Bitten. Und wie jedes der verzweifelten Gebete, die ich seit Smithfield gesprochen hatte, stießen sie auf Schweigen. Als ich endlich keine Tränen mehr hatte, glitt ich in einen Zustand dumpfer Betäubung. An Schlaf war in der nächtlichen Kälte nicht zu denken, mochte ich auch todmüde sein.
Ein Vielklang schriller, heller Rufe durchdrang schließlich das Grau meiner Benommenheit. Es waren Flussvögel, die den neuen Tag begrüßten. Ich richtete mich auf und blickte nach Osten. Ja, der Himmel zeigte den ersten perlgrauen Schimmer. Immer neue Vögel flogen rufend mit schnellem Flügelschlag über mich hinweg. Und diese frohgemuten Geschöpfe, die über die Kerkermauern dahinsegelten, weckten neuen Lebensmut in mir.
Ich würde nicht aufgeben.
Mir fiel jetzt ein, dass die Türen hier oben oft mit Hilfe eines Steins oder Holzkeils offengehalten wurden, wenn der Hauptmann mit mir auf und ab marschierte. Wenn ich Glück hatte, würde das heute nicht anders sein. Ich beschloss, mich hinter einer der Türen zu verstecken, die sich alle nach außen öffneten, und zu warten. Sobald sich eine Gelegenheit bot, würde ich um die geöffnete Tür herum huschen und in meine Zelle laufen.
Mit neuer Hoffnung suchte ich mir einen Platz neben der
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