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Die letzte Nonne - Bilyeau, N: Die letzte Nonne

Die letzte Nonne - Bilyeau, N: Die letzte Nonne

Titel: Die letzte Nonne - Bilyeau, N: Die letzte Nonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Bilyeau
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er, während er blätterte. »Rom   – die Kelten   – die Sachsen   – Alfred der Große.« Er hielt inne. »Und sein Enkel, König Athelstan.«
    Er klappte das Buch zu, gab es mir aber nicht zurück. »Ihr habt merkwürdige Interessen, Schwester Joanna.«
    Ich neigte kurz den Kopf, drehte mich um und eilte mit hämmerndem Herzen aus der Bibliothek hinaus. Im Rücken konnte ich seinen scharfen Blick spüren.
    Die Arbeit an unserer Tapisserie war in vollem Gang, als ich die Weberei betrat und unter den Blicken von Schwester Christina und Schwester Winifred zu meinem Platz an dem großen hölzernen Webstuhl eilte. Es war der einzige seiner Art in einem englischen Kloster; die meisten Tapisserien wurden in Brüssel gewirkt. Zu Beginn des Jahrhunderts hatte eine weitblickende Priorin unseres Hauses die Anschaffung dieses Webstuhls veranlasst und einen besonderen Arbeitsraum einrichten lassen. Dank seinen großen Fenstern gab es hier mehr Licht als in den anderen Räumen. Ein Jahr brauchten drei Weberinnen, die Seite an Seite arbeiteten, um eine Tapisserie von fünf Fuß Länge herzustellen.
    Ich setzte mich zwischen die beiden anderen Novizinnen, die einander so unähnlich waren. Schwester Christina, von tiefer Frömmigkeit beseelt, war großgewachsen, und an ihrem Gesicht mit den hohen Wangenknochen fiel besonders der durchdringende Blick ihrer Augen auf. Unter ihrem beinahe furchteinflößenden Äußerenjedoch verbarg sich ein achtsames Wesen. Sie bemerkte Dinge, die anderen entgingen. Schwester Winifred hingegen war klein und zierlich. Mit ihren großen leuchtenden Augen und dem herzförmigen Gesicht wirkte sie kindlich, und die älteren Nonnen verhätschelten sie gern ein wenig. Aber ich hatte sie noch vor keiner Schwierigkeit zurückscheuen sehen. Ihre Entschlossenheit war nicht zu unterschätzen.
    An diesem Nachmittag brachte mir mein verspätetes Erscheinen einen kalten Blick von Schwester Christina ein, die offenbar nicht bereit war, mir meine Vergehen gegen das Kloster je zu vergeben. Schwester Winifred aber lächelte mir kurz zu. Für diese Freundschaft bestand vielleicht noch Hoffnung.
    Ich machte mich auf eine Rüge von Schwester Agatha gefasst, die, am Ende des Raumes sitzend, die Novizinnen beaufsichtigte, aber sie sagte kein Wort zu meinem Zuspätkommen. Sie schien ihrer sorgenvollen Miene und ihrem umwölkten Blick nach zu urteilen in düstere Gedanken vertieft. Schwester Helen, unsere Tapisseriemeisterin, blieb gleichermaßen schweigsam, aber da sie seit drei Jahren mit keinem Menschen gesprochen hatte, war das keine Überraschung.
    Die Priorin Elizabeth hatte vom Kontinent eine Sondergenehmigung erwirkt, um Schwester Helen in Dartford behalten zu dürfen, obwohl sie weder bei Gebet noch Gesang je ihre Stimme vernehmen ließ. Sie war stumm, seit ihr älterer Bruder, ein Mönch, in Tyburn in Ketten gehängt worden war, weil er sich geweigert hatte, den Suprematseid abzulegen. Zu Beginn der Angriffe des Königs auf unsere Lebensweise hatten einige tapfere Ordensbrüder und -schwestern Widerstand geleistet. Sie waren mit unglaublicher Grausamkeit bestraft worden. Danach hatten die meisten den Eid abgelegt.
    Schwester Helen widmete sich der Teppichwirkerei, der seit zwanzig Jahren ihr besonderes Interesse galt, mit großer Hingabe, vielleicht zum Ausgleich für ihr beharrliches Schweigen. Sie schuf einzigartige Stücke mit Bildern von großer Eindringlichkeit. Ich war, dank der Unterweisung meiner Mutter, in allen Nadelarbeiten sehr geschickt, als ich nach Dartford kam, aber unsere Tapisserien wurden nicht gestickt, sondern auf dem Webstuhl mit der Fliete gewirkt, die zwischen den Kettfäden hin- und hergeschoben wurde.Schwester Helen lehrte mich, schnell und doch sorgfältig zu arbeiten und darauf zu achten, wann die Pedale unter unseren Füßen getreten werden mussten. Sie war es auch, die die Entwürfe für die Tapisserien herstellte und die Geschichten auswählte, die die Bilder erzählen sollten. Sie war eine begabte Zeichnerin und brachte zunächst die Vorlage zu Papier, bevor sie sie auf einen Karton in der gewünschten Größe der Tapisserie übertrug. Vor Beginn der Arbeit wurde der Karton in Streifen geschnitten, die unter den Kettfäden befestigt wurden, um das Muster zu zeigen. Wir hatten diese letzte Tapisserie gut zur Hälfte vollendet.
    Während ich mit meiner Fliete die Fäden andrückte, dachte ich nicht an meine Arbeit, sondern an das Buch, das ich entdeckt hatte. Athelstan hatte

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