Die letzte Nonne - Bilyeau, N: Die letzte Nonne
tatsächlich gelebt, ein König zur Zeit der Sachsen. Sicherlich hatte er eine Krone getragen. Aber warum sollte sie in Dartford versteckt worden sein? Klöster hatte es in England auch schon in diesen finsteren, stürmischen Zeiten gegeben; er selbst hatte einige gegründet. Warum also hatte Eduard III. die Krone nicht in einem von ihnen verborgen, sondern stattdessen ein neues Kloster, nämlich Dartford, errichten lassen?
Ich dachte auch über Bruder Richards Reaktion nach, als er mich mit dem Buch ertappt hatte; wie fest seine Hand es umschlossen hatte. Er hatte sofort gewusst, wer Athelstan war, obwohl die Geschichte dieses Herrschers, der in den letzten Jahren des vergangenen Jahrtausends geboren war, weithin im Dunkeln lag.
Leises Stöhnen schreckte mich aus meinen Gedanken auf. Schwester Agatha hielt die Hände auf die Brust gedrückt. In ihren Augen standen Tränen.
Wir Novizinnen sahen einander an, unsicher, was wir tun sollten.
Wie gewöhnlich war es Schwester Christina, die handelte. Sie war die älteste. »Geht es Euch heute gut, Schwester?«, rief sie.
Schwester Agatha schüttelte wie im Zorn den Kopf. »Es ist nicht gerecht – Ihr seid jung; Ihr habt wohlhabende Familien, die Euch aufnehmen können. Ich habe nichts und niemanden. Meine Angehörigen sind tot, und ich habe kein eigenes Geld.«
»Wie meint Ihr das?«, fragte Schwester Christina.
Wieder schüttelte sie den Kopf. »Ich sollte nicht so reden. Aber ichhörte heute Morgen, dass Cromwells Kommissare wieder mit den Inspektionen begonnen haben. Diesmal geht es um die größeren Klöster. Ich hatte gehofft, es wäre vorbei und wir wären außer Gefahr. Aber aus London wird anderes berichtet.«
Schwester Winifred sah mich erschrocken an. Ich täuschte Überraschung vor, obwohl mir diese Nachricht keineswegs neu war. Wahrscheinlich kroch die Furcht längst schon durch die Gänge aller größeren Klöster von Syon bis Glastonbury.
»Gott wird uns schützen«, rief Schwester Christina. »Und glaubt nicht, wir seien besser dran als Ihr, Schwester Agatha. Ich selbst werde Dartford niemals verlassen, komme, was da wolle. Wenn es sein muss, werde ich die Arbeit des Herrn auch auf Trümmern verrichten.«
Sie hatte ihre Arbeit am Webstuhl unterbrochen, und ihr Gesicht war eine starre Maske der Entschlossenheit.
Schwester Agatha schien ermutigt von so viel Überzeugung. »Ja, es ist ganz unmöglich zu glauben, dass der König Dartford jemals zerschlagen könnte. Unser Kloster wird ja gerade vom Adel bevorzugt.« Sie blickte uns an – nicht mehr zornig, sondern voll Hoffnung. »Des Königs eigene Tante war hier Nonne, bevor ich die Profess ablegte.«
»War ihr Name nicht Schwester Bridget?«, fragte Schwester Winifred.
»Ja, Schwester Bridget«, bestätigte die Novizinnenmeisterin. »Sie war die jüngste Schwester von Königin Elisabeth. Die alte Königin hat sie gelegentlich besucht – einmal brachte sie ihren Sohn, den Prinzen Arthur, mit.«
Ich verspürte einen stechenden Schmerz in meiner linken Handfläche. Bei der Erwähnung von Arthurs Namen hatte ich unwillkürlich mit der Schere zugestochen, die auf meinem Schoß lag. Nun quoll ein dicker Blutstropfen aus meinem Handballen.
Hastig griff ich nach einem Stofffetzen und drückte ihn auf den Handballen. »Wann war das, Schwester?«, fragte ich begierig. »Wann haben sie Dartford besucht?«
Schwester Agatha überlegte einen Augenblick. »Es war kurz nach Prinz Arthurs Heirat mit Katharina von Aragón. Soweit ich gehört habe, wollte Königin Elisabeth, dass Schwester Bridget Arthurs Gemahlin kennenlernte.«
Es fiel mir schwer, ruhig zu bleiben, als ich fragte: »Katharina von Aragón war in Dartford?« Der pochende Schmerz in meiner Hand wurde stärker; ich drückte den Stoff fester auf.
»Ja, ganz recht. Königin Katharina war damals noch ein ganz junges Mädchen. Es ist lange her. Vor meiner Zeit.« Sie rechnete im Kopf nach. »Mehr als dreißig Jahre. Ja, genau. Seht Ihr? Uns verbinden direkte Bande mit der königlichen Familie. Wie könnte der König da auch nur daran denken, Dartford aufzulösen und uns auf die Straße zu werfen?«
Es war also kein Fieberwahn der sterbenden Königin Katharina gewesen. Sie hatte tatsächlich mit ihrem ersten Ehemann hier geweilt.
Ich blickte zu meiner Hand hinunter. Das Blut ließ sich nicht stillen, ich konnte nicht weiterweben. Keinesfalls durfte ich diese zarten blauen und weißen Seidenfäden beflecken.
Schwester Winifred begann
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