Die letzte Nonne - Bilyeau, N: Die letzte Nonne
ihm nichts zu berichten, außer dass das Schreiben der Priorin Elizabeth an ihre Nachfolgerin verschwunden war. Jeder Außenstehende würde natürlich sofort vermuten, dass es gestohlen worden war, aber nur eine Nonne hätte die Privatgemächer der sterbenden Priorin betreten können, und der Gedanke, dass eine Schwester eine solche Tat verübt haben sollte, war unerträglich. Und doch – ein so wichtiges Schreiben hätte nicht einfach verlegt werden können.
Es war höchst unwahrscheinlich, dass ich es hier, irgendwo zwischen den Handschriften eingeklemmt, finden würde. Aber vielleicht konnten mich die Bücher etwas über die Ursprünge und die Vergangenheit des Klosters lehren, mir eine Erklärung dafür liefern, warum ein König gerade dieses Kloster ausgewählt hatte, um die geheimnisvolle Krone aufzubewahren; einen Hinweis geben, wo sie zu finden sein könnte.
Ich überflog die Titel der Bände. Die meisten waren geistliche Bücher, wie
The Mirror of Our Lady
und
Das Buch der Laster und der Tugenden
. Wir besaßen drei illuminierte Handschriften, von frommen Mönchen prächtig ausgeführt und von großem Wert. Aber den Grundstein der Sammlung bildeten die Schriften von der Hand der geistlichen Frauen des Dominikanerordens: der heiligen Katharina von Siena, der heiligen Margareta von Ungarn und anderen.
Über die Ursprünge des Klosters fand ich nichts.
Als letzte Möglichkeit blieb ein kleiner Bereich, der allgemeinen Themen gewidmet war. Ich sah mir die Bände an. Einer befasste sich mit rechtlichen Verträgen, ein anderer mit der Regierung der frühen Plantagenets. Dann fiel mein Blick auf einen schmalen dunklenBand mit dem Titel
Von Caratacus zu Athelstan
. Ich rieb mir die Augen und konnte kaum glauben, was ich sah.
Aufgeregt zog ich das Büchlein heraus und schlug es auf. Bei schneller Durchsicht erwies es sich als ein Überblick über die frühe englische Geschichte, beginnend zu der Zeit, als die Römer unter Kaiser Claudius unsere Insel erobert hatten. Caratacus war ein keltischer Herrscher gewesen, der sich Rom widersetzte. In den folgenden Kapiteln wurde das Leben unter römischer Besatzung geschildert, der Niedergang und der Rückzug der Römer aus England, die Überfälle der Sachsen, die Kriege mit den Dänen. Das Buch war einfach, nichts Besonderes, wie es schien. Ich blätterte zum letzten Kapitel mit der Überschrift ›Athelstan, der einzige König‹.
Auf Ethelward folgte nach dessen Tod 925 sein Halbbruder Athelstan, obwohl er nur der Sohn einer Konkubine war. Viele Königreiche bekämpften Athelstan. Die Dänen blieben nicht untätig. Sie sandten Boote aus, um York zurückzuerobern, und planten nach Süden vorzurücken. Sie plünderten viele Dörfer und begingen grausame Untaten, wie das ihre Gewohnheit war. Auch die Schotten planten Überfälle.
Im ersten Jahr waren die sächsischen Edelleute unzufrieden mit ihrem neuen König. Athelstans jüngerer Bruder Edwin wurde beschuldigt, sich mit den Edlen gegen ihn verschworen zu haben, und wurde verurteilt. Edwin beteuerte seine Unschuld und legte einen heiligen Eid ab. Aber Athelstan setzte ihn in einem Boot ohne Segel und Nahrung und Wasser auf dem Meer aus. Das Boot wurde nie wieder gesehen.
Mich fröstelte ein wenig bei dem Gedanken an den jungen Mann in dem Boot, allein und hilflos auf dem weiten Meer. Voller Furcht und dem Hungertod ausgesetzt. Wie erbarmungslos dieser König Athelstan gewesen war. Dann las ich weiter.
Später tat Athelstan Buße für den Tod seines Bruders. Er war ein Herrscher, der seinen Feinden gegenüber kein Erbarmen kannte, aber er war frommer und tugendhafter als alle anderen. Drei Mal täglich hörte er die Messe. Er gründete viele Klöster und war in der ganzen Christenheit als Sammler heiliger Reliquien bekannt.
»Ihr lest gern?«
Mit einem Aufschrei ließ ich das Buch fallen. Bruder Richard stand keinen Schritt weit entfernt. Ich war so vertieft gewesen in meine Lektüre, dass ich ihn nicht hatte hereinkommen hören.
»Habe ich Euch erschreckt?«, fragte er.
»Ja.« Zu meinem Entsetzen versagte mir die Stimme.
»Das ist wirklich eine ansehnliche kleine Bibliothek, die Ihr hier in Dartford habt«, sagte er auf seine gönnerhafte Art.
»Ja, Bruder.« Ich hatte mich wieder beruhigt und bückte mich, um das Buch aufzuheben.
»Darf ich sehen, was Ihr gerade gelesen habt?«, fragte er.
Ich hielt ihm den Band hin.
»Ah, das ist eine Zeit, über die nicht viel bekannt ist«, sagte
Weitere Kostenlose Bücher