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Die letzte Nonne - Bilyeau, N: Die letzte Nonne

Die letzte Nonne - Bilyeau, N: Die letzte Nonne

Titel: Die letzte Nonne - Bilyeau, N: Die letzte Nonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Bilyeau
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gegenüber und Schwester Christinas zu meiner Linken begegnen zu müssen. Doch gegen Ende des bedrückenden Mahls hielt ich es nicht mehr aus. Ich hob den Kopf und blickte Schwester Winifred direkt in die Augen. Sie war den Tränen nahe.
    »Möchtet Ihr mir etwas sagen?«, fragte ich.
    »Oh, Schwester Joanna, was ist nur mit Euch geschehen?«, flüsterte sie.
    Die bittere Antwort entfuhr mir, bevor ich sie zurückhalten konnte. »Undenkbares.«
    Schwester Christina neigte sich mir zu. »Sagt es uns«, drängte sie. »Ihr müsst.«
    Ich schüttelte den Kopf. »Nein.«
    »Wir sind Eure nächsten Freundinnen«, sagte sie. »Warum wollt Ihr uns nicht sagen, was Euch im Tower geschehen ist, damit wir Euch stützen können?«
    Ich schloss die Augen. »Es tut mir leid«, sagte ich. »Ich kann nicht.«
    In der Nacht stürzte ich von einem Albtraum in den nächsten. Schluchzend suchte ich nach den Westerly-Kindern. Dann wechselte die Szene, und ich rannte von Angst gejagt mit meiner Cousine Margaret durch undurchdringliche Wälder. Wir flohen vor einem bösen Dämon, der uns verschlingen wollte, und jedes Mal, wenn wir glaubten, ein Versteck gefunden zu haben, spürte er uns wieder auf.
    Ein schriller Schrei zerriss die Nacht, und im ersten Moment glaubte ich, er wäre Teil meines beängstigenden Traums. Dann hörte ich ihn noch einmal, angstgequält, der Schrei einer gemarterten Kreatur. Ich öffnete die Augen und wusste, dass der Schrei Wirklichkeit war. Er drang durch das kleine Fenster hoch oben in der Wand unseres Zimmers.
    »Was ist das?«, fragte Schwester Winifred, die sich neben mir aufgesetzt hatte, mit zitternder Stimme.
    »Ich weiß es nicht«, antwortete ich heiser.
    »Es ist ein Schwein«, sagte Schwester Christina. Ihre Stimme war so klar, als wäre sie schon seit einer ganzen Weile wach. Sie setzte sichnicht auf. Sie blieb auf ihrem Strohlager an der Wand gegenüber liegen. In der grauen Düsternis konnte ich ihr Profil nur undeutlich erkennen. Die Nacht lichtete sich; in einer Stunde würde es dämmern.
    »Ein Schwein?«, fragte ich.
    »Sie schlachten es für meinen Vater.«
    Einmal noch hörten wir den Schrei, dann nichts mehr. Ich lag steif und atemlos da und wartete auf den nächsten Schrei. Aber er blieb aus. Sie mussten dem Schwein die Kehle durchgeschnitten haben.

Kapitel 25
    Mit meiner Vihuela auf dem Schoß saß ich im Kapitelsaal zwischen Bruder Edmund und Schwester Winifred und wartete auf die Ankunft von Lord und Lady Chester. Es war Nachmittag. Aus Gründen, nach denen ich nicht zu fragen wagte, sollte das Festbankett zum Totengedenken Stunden später beginnen als unser übliches Mittagessen. Vielleicht auf Bitte unserer Nachbarn. Vielleicht weil man sonst in der Küche nicht mit der Zubereitung der Speisen fertig geworden wäre. Den ganzen Vormittag zog der Geruch bratenden Fleischs durch die Gänge, so durchdringend, dass man sich nicht entziehen konnte. Es gab natürlich Schwein; das Tier, das am Morgen geschlachtet worden war, drehte sich an einem Spieß über dem Küchenfeuer, Angst in die toten Augen eingebrannt. Aber es wurde noch mehr geboten: Wild, gebratenes Rind, Lerchen, Kaninchen und Kapaun. All diese Gerichte waren uns fremd. Als ich im Südgang an Schwester Rachel vorüberkam, hielt sie ein Tuch vor die Nase gedrückt. Sie zog es weg und zischte wutentbrannt: »Schande!«, bevor sie es wieder über Mund und Nase legte.
    Jetzt saß Schwester Rachel mit grimmiger Miene bei uns allen im Kapitelsaal. Auf den steinernen Bänken entlang drei der vier Wände war jeder Platz besetzt. Auch Schwester Christina wartete dort und nicht an der Haupttafel. Niemand sagte etwas darüber, ob es ihreigener Wunsch gewesen oder ihrem niederen Stand als Novizin zuzuschreiben war. Sie hielt die Hände fest im Schoß gefaltet, eine Haltung, die ich von ihr kannte: Sie bedeutete, dass sie sich in sich zurückgezogen hatte, um zu beten.
    Ich saß mit den beiden anderen Musikern abseits auf einem schmalen Schemel. Kühle Luft strömte durch die Ritzen der Fenster hinter mir. Man hatte uns seitlich von der langen Haupttafel platziert.
    Am Kopf der Tafel saßen nur zwei Personen: Die Priorin Joan und Bruder Richard, durch zwei leere Stühle voneinander getrennt. Bruder Philip war nicht zugegen. Bei der Frühmesse zu Allerseelen hatte er einige leidenschaftliche Sätze über das Fegefeuer gesprochen. Danach hatte er sich wegen Unwohlseins für das Festmahl entschuldigt. Er war der Einzige, der das gewagt

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