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Die letzte Nonne - Bilyeau, N: Die letzte Nonne

Die letzte Nonne - Bilyeau, N: Die letzte Nonne

Titel: Die letzte Nonne - Bilyeau, N: Die letzte Nonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Bilyeau
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dass die Darstellung klassischer Sagen in der Kunst keine Gotteslästerung ist.«
    Bruder Edmund öffnete den Mund, als wollte er noch etwas sagen, aber dann schien er es sich mit einem Blick auf seine Schwester und mich anders zu überlegen. Der gewohnte Ausdruck ruhiger Gelassenheit kehrte in seine Züge zurück.
    Bruder Richard winkte ihm von der Tür aus. »Ihr werdet im Hospital gebraucht«, rief er.
    Bruder Edmund übergab die Laute seiner Schwester und eilte hinaus. Auch ich verließ den Kapitelsaal, um mit meinen anderen Verrichtungen fortzufahren. Im Gang kam mir Schwester Eleanor entgegen, noch ernster als sonst. Ich sah auch gleich, warum: Ihr folgten sechs Nonnen mit den Schätzen unserer Kirche. Sie trugen Becher und Teller und, das Kostbarste, unser Reliquiar. Es sollte jetzt,nachdem es zur Allerheiligenmesse hervorgeholt worden war, in den Kapitelsaal gebracht und dort vor unseren Gästen zur Schau gestellt werden.
    Ich drückte mich an die Mauer, um dem Zug Platz zu machen. Schwester Rachel trug den kostbaren Schatz, als hielte sie ein Neugeborenes im Arm. Unser Reliquiar war ein Handreliquiar, eine lebensgroße, aus Elfenbein geschnitzte Hand auf einem vergoldeten zylindrischen Sockel, der mit Diamanten und kleinen Rubinen besetzt war. Es war mehr als zwei Jahrhunderte alt, ein Gründungsgeschenk Eduards III.   Ich hatte es selbst schon in Händen gehalten; es wirkte zart, war aber erstaunlich robust. Reliquiare sind zur Aufbewahrung von Reliquien gedacht   – es kann eine Haarlocke, ein Fingernagel oder irgendein anderes Relikt des Körpers eines Heiligen sein   –, aber das unsere war leer zu uns gekommen. Dennoch verehrten wir es in seiner Bedeutung und Schönheit. Mein Herz schlug schneller, als Schwester Rachel es vorübertrug. Es war schön   – und trotzdem fand ich es furchteinflößend. Manchmal schien es, als wollten die beiden am weitesten ausgestreckten Finger nach mir greifen.
    »Schwester Agatha«, rief Schwester Eleanor der letzten Nonne der Gruppe zu, »wenn Ihr den Kelch hineingetragen habt, vergesst nicht, in die Bibliothek zu gehen und unser
Leben der heiligen Mathilde
zu holen.«
    Schnell trat ich vor. »Schwester Agatha, darf ich Euch helfen?«
    Die Novizinnenmeisterin war sichtlich erfreut über mein Angebot. »Gern, Schwester Joanna. Vielleicht sperrt Ihr die Bibliothek schon einmal auf und wartet dort auf mich. Ich bin gleich da.« Sie griff in ihre Tasche und nahm den Schlüssel von einem Ring.
    Ich musste mich beherrschen, um nicht zu laufen. Mit zitternder Hand sperrte ich die Tür auf. Wieder ging ich schnurstracks zu dem Schrank, in dem ich den Band über Athelstan gefunden hatte, und fand wieder nur eine Lücke. Es war noch nicht an seinen Platz zurückgestellt worden.
    Auf dem Bord darüber jedoch stand
Die Geschichte der Plantagenets
, und ich fragte mich, ob sie mir über das Leben von Richard Löwenherz Auskunft geben würde. Meine Hand lag schon am Einband,als Schwester Agatha hereingeeilt kam. Ich sprang erschrocken zurück, doch sie hatte nichts bemerkt.
    »Oh, dank Euch, Schwester Joanna. Das ist eine so empfindliche Handschrift, und Schwester Eleanor wird so ärgerlich, wenn ich etwas falsch mache.«
    Wir wandten uns dem
Leben der heiligen Mathilde
zu, eine der fünf illuminierten Handschriften, die das Kloster besaß. Jede einzelne der farbenprächtigen Malereien, die jeweils einem beschrifteten Blatt gegenüberstanden, musste die Mönche viele Wochen Arbeit gekostet haben.
    Während Schwester Agatha damit beschäftigt war, die Bänder zu lösen, mit denen das Schriftwerk an einem Ständer befestigt war, sagte sie: »
Mir
hat Lord Chester nie den Eindruck eines besonders gelehrten oder gebildeten Menschen gemacht, aber meine Meinung ist ja auch nicht gefragt.«
    »Ihr kennt Lord Chester?« Ich war erstaunt.
    »Ihr nicht?«
    Ich schüttelte den Kopf.
    »Er war eine Zeitlang häufig hier zu Gast«, sagte Schwester Agatha. »Was wahrscheinlich nicht weiter verwunderlich ist, da er ja unser Nachbar ist. Aber jetzt, wo ich darüber nachdenke, fällt mir auf, dass er in den letzten zwei Jahren höchstens einmal hier war. Und gar nicht mehr, seit seine Tochter hier Novizin ist.«
    Es gelang ihr endlich, die Handschrift vom Ständer zu nehmen. Ich trat näher, um ihr tragen zu helfen.
    Schwester Agathas Mund zuckte. Sie hatte noch mehr zu sagen. »Junges Blut tut natürlich jedem Kloster gut. Unsere Priorin ist einundvierzig Jahre alt; sie besitzt noch die

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