Die letzte Nonne - Bilyeau, N: Die letzte Nonne
hatte Richard nicht nur den Armbrustschützen begnadigt, er musste auch befohlen haben, die Krone erneut dem Zugriff der Menschen zu entziehen. Aber jemand hatte davon gewusst, und die Gerüchte hatten fortgelebt, denn zwei Jahrhunderte später hatte ein hochmütiger und kriegerischer Prinz, der älteste Sohn Eduards III., sich auf die Suche nach der Krone begeben – und sie gefunden. ›Er ließ eine Schiffsladung reicher Schätze nach England bringen‹, hieß es in dem Buch.
Der Schwarze Prinz hatte die Krone nach England zurückgeholt.
Aus Angst, ihre Kräfte zu entfesseln, wenn er sie vernichtete, musste sein Vater, der König, beschlossen haben, die Athelstan-Krone an einem heiligen Ort zu verwahren. Dafür hatte er ein dominikanisches Kloster bauen lassen. Aber auch diesmal musste jemand darum gewusst und darüber berichtet haben, denn vor sechsunddreißig Jahren war ein junger Tudor gekommen, um sich ihrer zu bemächtigen, und zum dritten Mal hatte die Krone einen Prinzen von Geblüt um sein Leben gebracht.
»Wenn Ihr das Versteck gefunden habt, so teilt es mir allein mit. Schriftlich«, hatte Bischof Gardiner gesagt. »Ihr dürft die Krone nicht berühren, nicht einmal mit den Fingerspitzen.«
Berührung. Das war das Entscheidende. Wer die Krone berührte, war dem Tod geweiht, keine Tinkturen oder Elixiere konnten ihm helfen, und auch die besten Ärzte waren machtlos. Und die Kronewar hier, irgendwo in diesem Kloster, innerhalb dieser Wände oder vielleicht unter unseren Füßen.
Bischof Gardiner hatte von dem Geheimnis der Krone erfahren und wollte sie in seinen Besitz bringen. Aber warum? Wollte er sie als Waffe einsetzen, um unseren Monarchen, König Heinrich, tödlich zu schwächen? Er hatte behauptet, er wolle die Klöster retten, aber er hatte auch mit großer Inbrunst gesagt: »
Ich diene dem Haus Tudor.«
Sein Spitzname fiel mir ein: Winchester der Fuchs, er stand in dem Ruf eines treulosen Verräters. Beabsichtigte er vielleicht, sich die Krone anzueignen und sie dem König zu präsentieren, um seinen im Sinken begriffenen Stern wieder zum Leuchten zu bringen und sich Heinrich Tudors Gunst zu sichern? Oder wollte er wirklich dem König dienen? Könnte ein Mensch, der eine mit solchen Kräften ausgestattete Krone besaß, fragte ich mich, sich überhaupt vor einem anderen Gekrönten beugen?
Ich fuhr zusammen, als jemand mich recht unsanft in die Rippen stieß. Bruder Edmund wies mit einer Kopfbewegung zur Tür.
Ein von Kopf bis Fuß schwarz gekleidetes Paar stand auf der Schwelle zum Kapitelsaal. Lord und Lady Chester waren endlich eingetroffen. Ich schlug mir alle Gedanken an die Krone aus dem Kopf.
Lord Chester betrat den Saal zuerst. Er war ein stattlicher Mann, der die besten Jahre noch nicht lange überschritten hatte. Der Pförtner, der jetzt devot hinter unseren Ehrengast zurücktrat, wirkte klein neben ihm. Er trug ein langes schwarzes Wams, kunstvoll mit Silberfäden durchwirkt, ein teures, hochmodisches Kleidungsstück. Als er näher trat, fiel mir auf, dass es an der Knopfleiste spannte; er hatte begonnen, erstes Fett anzusetzen, und merkte es entweder nicht oder wollte es nicht merken. Unter den dünnen, sorgsam gekämmten braunen Haarsträhnen schimmerte ein kahler Scheitel. An beiden Händen funkelten kostbare Ringe.
Er bewegte sich mit schwerem Schritt langsam zum Kopf der Tafel und auf den Sessel zu, der, wie er richtig vermutete, für ihn freigehalten worden war.
Die Priorin Joan stand auf. »Kloster Dartford heißt Euch willkommen zu diesem Festmahl zur Feier des Allerseelentags, Lord Chester«, sagte sie.
Er verneigte sich und erwiderte mit tiefer Stimme: »Ich danke Euch, Ehrwürdige Frau Priorin.« Ohne sich umzudrehen, winkte er nachlässig mit einer Hand. »Bitte, Milady.«
Lady Chester, blass und mager, von kleiner Statur, trat zu dem Sessel an seiner Seite. Ihr schwarzes Gewand und die schwarze Giebelhaube gaben ein so strenges Kostüm ab, dass sie mehr wie eine von uns aussah denn wie eine adelige Dame. Nicht ein einziges Juwel, nicht einmal ein schmaler Ring schmückte sie. Sie war in strengster Trauer, was, dachte ich, wohl nur angemessen war, wenn man bedachte, dass vor einer Woche die Gemahlin des Königs gestorben war, in dessen Diensten ihr Mann stand.
Lord Chester drehte sich halb herum und inspizierte unsere Ecke des Saals. Jetzt, da er näher stand, wirkte er nicht mehr so rüstig. Seine Augen waren blutunterlaufen, die Haut seines Halses hing schlaff
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