Die letzte Nonne - Bilyeau, N: Die letzte Nonne
Kraft, vieles zu bewegen. Aber eine dreißigjährige Aufseherin? Das ist nicht leicht zu ertragen. Ich meine, es macht mir ja nichts aus, dass Schwester Eleanor, die so viel jünger ist als Schwester Rachel und ich, einen höheren Rang innehat. Das ist nicht die Schwierigkeit.«
Während Schwester Agatha fortgesetzt redete, trugen wir das schwere Schriftwerk hinaus. Mit der freien Hand schloss ich die Bibliothekstür hinter uns. Sie forderte mich nicht auf abzusperren.
Im Kapitelsaal legten wir
Das Leben der heiligen Mathilde
nebendem Reliquiar auf dem langen Tisch nieder. Beim Anblick der Daphne-Tapisserie, die jetzt absolut gerade hing, hellte sich Schwester Agathas Gesicht auf, und sie gesellte sich zu den anderen Schwestern, die wie verzückt davorstanden.
»Ja, das hier ist unser Meisterwerk«, verkündete sie. Dann runzelte sie plötzlich die Stirn. »Aber warte, das Mädchen in der Mitte. Ihr Gesicht kommt mir bekannt vor. Wer ist das?«
Mit einer leichten Verneigung entfernte ich mich von den Schwestern. An der Tür blieb ich stehen, wartete darauf, dass Schwester Agatha rufen würde: Schwester Joanna, ich brauche den Schlüssel wieder.
Sie tat es nicht.
Dies war allenfalls eine Unterlassungssünde, sagte ich mir, als ich durch den Gang lief. Zur Vesper würde Schwester Agatha ihren Schlüssel wiederhaben.
Zurück in der Bibliothek, zog ich das Buch über das Geschlecht der Plantagenets heraus. Schnell hatte ich das Kapitel über Richard Löwenherz gefunden, den zweiten Plantagenet-König von England, und blätterte zum Ende.
Im letzten Jahr seiner Herrschaft, nach seiner Rückkehr aus dem Heiligen Land und seiner Befreiung aus der Gefangenschaft, beschäftigten Richard vor allem Gebietsstreitigkeiten mit dem französischen König. Richards Château Gaillard, am Ufer der Seine, war eine mächtige Festung, im Jahr 1198 fertiggestellt. Aber der Bau hatte viel Geld verschlungen, und die englische Schatzkammer sowie das Herzogtum Aquitanien, Richard von seiner Mutter Königin Eleonore anvertraut, waren nahezu ausgeblutet.
Im Frühling des Jahres 1199 hielt Richard sich in Aquitanien auf, als ihm gemeldet wurde, dass in der Nähe von Château Châlus-Chabrol, unweit seiner Residenz, ein vergrabener Schatz entdeckt worden sei. Der Fundort lag auf dem Gebiet des Vicomte de Limoges, der zu Richards Vasallen gehörte, aber immer wieder mit dem französischen König paktierte und daher kein Vertrauen genoss.
Richard reiste nach Châlus-Chabrol und erhob Anspruch auf den Schatz, da er dringend Geld brauchte. Der Schatz, von einem Bauern
entdeckt, bestand aus Goldmünzen und Gegenständen von königlicher Kostbarkeit. Nachdem Richard ihn geprüft hatte, erklärte er, er sei englischen Ursprungs.
Monsieur Montbrun, Herr von Château Châlus-Chabrol, ein Verwandter und Verbündeter des Vicomte de Limoges, war höchst verärgert und erklärte, der Schatz könne nicht von so weither stammen. Er beschuldigte Richard öffentlich, ihn gestohlen zu haben. Und es gab viele, die das glaubten. Aber eine so schwere Beleidigung konnte kein Herrscher unbeantwortet lassen. Richard rief daher seine Truppen zum Kampf gegen den französischen Edelmann zusammen, und das Château bereitete sich auf eine Belagerung vor. Es dauerte einen Monat, ehe die Truppen sich mit dem notwendigen Belagerungsgerät versammelten.
Am Abend des 25. März schritt Richard die Mauern des Château Châlus-Chabrol ab. Seine Männer baten ihn, die Rüstung anzulegen, da die französischen Armbrustschützen auf den Mauern noch immer über viele Pfeile verfügten. Richard lehnte ab. Er rief einen der Schützen auf der Mauer an und verspottete ihn. Als er ihm zu schießen gebot, folgte der Mann der Aufforderung. Sein zweiter Pfeil traf König Richard in die linke Schulter. Der König kehrte in sein Zelt zurück und zog das Geschoss eigenhändig heraus, aber der Pfeil brach ab, und ein Teil blieb im Fleisch des Königs stecken. Der König weigerte sich, die Wunde behandeln zu lassen.
Er begann zu fiebern, und nach einigen Tagen stand zu befürchten, dass er sterben würde. Richard aber befahl in seiner Todesstunde, dass der Armbrustschütze begnadigt werden und ihm nichts geschehen solle. Richard sagte, er sei es nicht wert, König zu sein, er sei schon geschwächt gewesen, bevor der Pfeil ihn getroffen habe. Seine Worte bereiteten seinen Edlen große Betrübnis, und sie schworen, er sei der tapferste Mann, dem sie je gedient hätten.
Als er am 6.
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