Die letzte Rune 03 - Der Runensteinturm
überspannte, gewann ein Umriß an Konturen, dann durchdrang er ihn und raste auf den Mann zu.
Die Bestie näherte sich mit erschreckender Geschwindigkeit und gewann mit jedem der unregelmäßigen Herzschläge des Mannes an Größe, bis sie seine Sicht ausfüllte und ein Brüllen jedes andere Geräusch übertönte. Auf der roten Panzerhaut spiegelte sich das Sonnenlicht; das Ding hielt sich dicht am Boden, wie zum Sprung bereit. Seine Augen blitzten zweimal auf, dann stieß es ein durchdringendes Jaulen aus, das den Schädel des Mannes ausfüllte und ihn an Ort und Stelle festnagelte. Er regte sich nicht, wartete darauf, daß die Kiefer der Bestie zuschnappten, daß Knochen brachen und Fleisch zerfetzte.
Eine Windböe riß an ihm; Steinchen prasselten auf seine Haut. Das Gras neigte sich wie die Sklaven vor einem schrecklichen Herrscher und erhob sich wieder, als die Welt verstummte. Der Mann drehte den Kopf, um nach hinten zu sehen, aber das Ungeheuer verlor schon wieder an Größe, als es davonraste.
Er blickte nach vorn und vergaß die Bestie. Wieder stieg das Fieber in seinem Inneren, kauterisierte Gedanken und Erinnerungen, brannte all das fort, was ihn ausmachte. Er konnte die kleinen Flammen sehen, die über seine papierdünne Haut tanzten. Bald. Nach all dieser Zeit würde es bald soweit sein.
Er wollte sich wieder in Bewegung setzen, aber etwas hielt ihn fest. Er strengte sich an, hob einen Fuß. Von den Sohlen seiner abgestoßenen Stiefel zogen sich schwarze Fäden wie Pech zu dem Loch in der Straße, in die er eingesunken war. Er riß den anderen Stiefel los und stolperte weiter. Er wußte nicht, in welch seltsamem Land er gelandet war. Er wußte nur, daß er Jakabar finden mußte.
»Sei auf der Hut«, flüsterte er. »Es wird dich verzehren.«
Der Mann taumelte den Highway in den Bergen entlang, und im Asphalt blieb eine Reihe eingeschmolzener Fußspuren zurück.
2
Jetzt, wo er wieder zurück war, war es beinahe so, als wäre er niemals fort gewesen.
»Er kommt«, flüsterte Travis Wilder, als er aus der Tür des Mine Shaft Saloons trat.
Er beugte sich über das Geländer des hölzernen Gehsteigs und hielt das Gesicht nach Westen, auf die felsige Pyramide zu, die sich wie ein Wächter über die kleine Stadt in den Bergen erhob.
Der Castle Peak. Oder das, was er als Castle Peak bezeichnete, denn im Laufe der Jahre hatte der Berggipfel viele Namen getragen. In den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts hatten ihn die Arbeiter aus den Silberminen Ladyspur’s Peak genannt, nach der Lady mit den Sporen, zu Ehren einer allseits beliebten Nutte. Der örtlichen Legende zufolge hatte ein Revolverheld aus Cripple Creak Ladyspur nicht für ihre Dienste bezahlen können, und sie erschoß ihn in einem fairen Duell mitten auf der Elk Street. Sie selbst starb kurz darauf an Cholera und wurde so beerdigt, wie sie gelebt und gearbeitet hatte: mit den Sporen an ihren hochschaftigen Stiefeln.
Davor hatte der Berg auf in St. Louis hergestellten Landkarten – phantasievoll übertriebene Dokumente, die die Träumer über die grüne Prärie herbeilocken sollten – Argo Mountain geheißen, obwohl das einzige Gold, das jemals auf dem Castle Peak gefunden worden war, aus dem warmen Licht des Sonnenauf- und Sonnenuntergangs bestand.
Kurz vor dem Goldrausch von 1859 war ein paar Jahre lang der Name Mount Jeffrey im Gespräch gewesen, ein Name, den der Berg mit einem unbedeutenden Mitglied der Long-Expedition von 1820 geteilt hatte – ein Lieutenant, der eines Nachmittags mit einer Flasche Whiskey auf den Gipfel geklettert war. Als Lieutenant Schuyler P. Jeffrey fünf Jahre später in einem Mietshaus in Washington D.C. an einer Blutvergiftung starb, hatten sich sein Name und der Berg schon längst wieder getrennt. Obwohl die leere Whiskeyflasche, die er weggeschmissen hatte, noch immer da lag.
Die Indianer vom Stamm der Ute, die von den bewaldeten Hügeln aus zugesehen hatten, wie Longs Leute das Tal durchquerten, hatten ihren eigenen Namen für den Berg: Umwölkte Stirn, wegen des Nebels, der oft den Gipfel verhüllte. Falls jedoch die Menschen, die vor den Ute dort gelebt hatten, dem Berg einen Namen verliehen hatten, war er mit ihnen verschwunden. Und davor … hatte es keine Namen gegeben.
Ein Berg. Viele Namen. Schließlich hatten der steile Berg und die Stadt beide den Namen von Mr. Simon Castle angenommen, der im Osten sein Vermögen als Verleger begründet hatte und mit dem Traum nach Westen
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