Die letzte Rune 05 - Der Tod der Götter
freimachen. In Mandus Reich ist kein Platz für Furcht, Wut oder Verlangen. Denn er hat keine Wünsche, da er ständig stirbt. Und da er keine Wünsche hat, wird er auch ständig wieder geboren.«
»Vielleicht sollte er ein paar Fenster einbauen lassen, um an Kerzen zu sparen«, murmelte Durge, aber Melias Blick ließ ihn auf der Stelle verstummen. Aryn musste den Drang niederkämpfen, den stets praktisch denkenden Ritter zu umarmen. Stattdessen folgten sie Melia durch die Tür und betraten den dahinter liegenden Tempel.
37
Offensichtlich war Mandu der Sterbende in Tarras kaum populärer als in den Domänen. Im Tempel waren nur eine Hand voll Gläubige. Es gab nur wenig Möbel – ein paar Holzbänke, auf die man sich zum Beten knien konnte, einen nackten Marmoraltar und im dämmerigen Mittelschiff eine aus milchigweißem Stein gefertigte Statue des Gottes in der Höhe zweier Männer, die mit heiteren, leeren Augen blickte.
Ein Priester eilte auf sie zu und zerrte an seiner schlecht sitzenden weißen Robe, damit sie ihm nicht von den knochigen Schultern rutschte. Er war ein junger Mann mit einem unscheinbaren, aber fröhlichen Gesicht und einer großen Hakennase.
»Eure Heiligkeit, Melindora! Also entsprach die Vision, die Mandu meinem Meister schickte, der Wahrheit – Ihr seid gekommen.«
Melia rauschte auf ihn zu. »Sagt mir, Akoluth, zweifelt Ihr die Macht Mandus und die Weisheit Eures Meisters immer an?«
Dem jungen Mann quollen beinahe die Augen aus dem Kopf. »Niemals, Eure Heiligkeit! Natürlich ist Mandu allmächtig und mein Meister ausgesprochen weise. Ich wollte nur sagen …«
»… dass Ihr Euren müden Gästen, die eine so weite Reise hinter sich haben, Wein bringt und sie dann unverzüglich zu Orsith führt«, vollendete Melia seine Worte.
Der junge Priester starrte sie an.
»Wein«, erinnerte ihn Melia mit einem freundlichen Lächeln. »Dann Orsith.«
Aryn zwang sich dazu, nicht zu lachen; der junge Mann hatte es offensichtlich auch so schon schwer genug. Aber sie konnte die Heiterkeit in Melias Augen sehen. Es war klar, dass die Lady nicht wütend war.
Trotzdem benahm sich der Priester, als wäre sein Gott vor ihm in einem Blitz aus Zorn und Pracht erschienen. Und vielleicht war das nicht einmal so falsch, da Melia einst selbst eine Göttin gewesen war – eine Tatsache, der sich der junge Mann durchaus bewusst zu sein schien. Eilig brachte er den Wein, verschüttete einen Teil auf dem Boden und wischte ihn mit dem Saum seiner Robe auf.
Erst als Aryn trank, wurde ihr bewusst, dass sie tatsächlich schrecklich durstig war; sie fragte sich, warum ihr das nicht schon früher aufgefallen war. Ihr Blick fiel auf Mandus friedliches Steinantlitz, aber bevor sie darüber nachdenken konnte, winkte der junge Priester sie zu einer Tür herüber.
»Hier entlang, Eure Heiligkeit. Er erwartet Euch.«
Hinter der Tür war ein völlig leerer Raum. Seine Größe war schwer zu bestimmen, da Boden, Wände und Decke weiß waren. Es schien keinen genauen Anhaltspunkt zu geben, wo die eine Ebene endete und die nächste begann, und das Licht bestand aus einem silbernen Glühen, das von überall und nirgendwoher zu kommen schien.
»Willkommen«, sagte eine trockene, warme Stimme.
Aryn schaute auf und entdeckte, dass der Raum nicht völlig leer war. Genau in der Mitte schwebte ein alter Mann mit untergeschlagenen Beinen und den Händen auf den Knien in der Luft. Sein Gewand, Haar und der lange Bart wiesen die gleiche silberweiße Farbe wie die Steinwände auf. Doch seine faltigen Wangen hatten eine dunkle, kupferähnliche Farbe, und seine kleinen Augen waren so braun wie Nüsse.
Melia trat einen Schritt vor und strahlte. »Orsith. Es ist eine Freude, Euch wieder zu sehen.«
Der Alte lächelte; es war eines der gütigsten Lächeln, das Aryn je gesehen hatte.
»Meine Liebe, die Freude ist auf meiner Seite. Aber Ihr müsst mir verzeihen, dass ich nicht herunterkomme, um Euch herzlicher zu begrüßen. Ich befinde mich im zweiten Tag des Stillstands und muss nur noch einen Tag hier bleiben. Eigentlich ist Sprechen schon ein Verstoß, aber ich glaube, dass mir Mandu unter diesen Umständen wohl vergeben wird.«
»Oh, dafür werde ich schon sorgen«, sagte Melia. »Und keine Sorge, ich komme zu Euch.«
Und die kleine Frau erhob sich in die Luft, schlug die Beine unter und schwebte ein Stück von Orsith entfernt.
Falken schnaubte. »Angeberin.«
Lirith trat staunend ein Stück näher heran. »Verzeiht
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