Die letzte Rune 05 - Der Tod der Götter
nächsten Morgen stand sie kurz nach Einbruch der Morgendämmerung auf und begab sich auf die Suche nach Aryn – die sie in den vergangenen beiden Tagen nicht gesehen hatte. Sie fand die Baronesse, wie sie gerade Tressas Gemächer verließ.
»Unsere neue Jungfrau macht sich großartig«, sagte die rothaarige Hexe mit einem mütterlichen Lächeln. »Sie wird für ihren Auftritt morgen Abend gründlich vorbereitet sein.«
»Das höre ich gern«, sagte Lirith.
Als sich die Tür schloss und die beiden allein im Korridor zurückblieben, grinste Lirith und drückte Aryns Hand.
»Ihr seid wunderbar«, sagte sie.
Aryn lachte nervös. »Davon weiß ich nichts. Aber ich habe es geschafft, dafür zu sorgen, dass mir der Kopf nicht platzt, obwohl Schwester Tressa so viele Dinge hineingestopft hat. Ich hatte ja keine Ahnung, dass man als Jungfrau so viele Dinge befolgen muss.«
Lirith nickte. »Ich habe gehört, dass es viel einfacher ist, die Greisin zu sein. Aber wenn man so alt geworden ist, hat man bestimmt keine Lust, dass einem ein Haufen junger Hexen sagt, was man tun soll.«
»Vermutlich nicht«, sagte Aryn.
Sie spazierten eine Zeit lang an den sonnenhellen Fenstern vorbei. Lirith erzählte von den Dingen, die sie bei den Zirkeln getan hatte, und Aryn beschrieb die Lektionen, die sie gelernt hatte. In der Eingangshalle des Schlosses verabschiedeten sie sich schließlich voneinander. Sie wollten gerade auseinander gehen, als eine Frau durch das Schlosstor kam.
Sie war eine Hexe, so viel stand fest, obwohl Lirith sich nicht daran erinnern konnte, sie bei der Zusammenkunft gesehen zu haben. Und sie sah mit Sicherheit blendend genug aus, um einem ins Auge zu fallen. Ihre dunklen Augen standen leicht schräg, und aus dem mitternachtsschwarzen Haar stach eine perlenweiße Locke hervor. Die Hexe ging an den beiden Frauen vorbei. Ihr buntes Gewand raschelte leise.
»Guten Morgen, Schwester«, sagte die Hexe und nickte Aryn zu. Dann ging sie durch einen Torbogen und verschwand.
Lirith schaute die Baronesse an. »Wer war das?«
»Schwester Mirda.«
Lirith hatte den Namen noch nie gehört. »Gehört sie zu Liendras Gruppe?«
»Nein, das glaube ich nicht. Bei der Zusammenkunft hat sie Sia gebeten, mich zu segnen.«
Lirith dachte darüber nach. Sicherlich würde niemand von Liendras Fraktion einen solchen Segen aussprechen. Doch Lirith kannte die Mehrzahl der Hexen aller Domänen zumindest beim Namen, wenn nicht vom Sehen. Aber den Namen Mirda hatte sie noch nie zuvor gehört.
»Vielleicht ist sie eine Freundin Ivalaines«, sagte Aryn mit einem Schulterzucken.
Lirith seufzte. »Manchmal bin ich mir nicht so sicher, ob Ivalaine unter den Hexen überhaupt echte Freunde hat. Natürlich wird sie von vielen respektiert. Aber sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, einen Schritt Distanz zu den anderen einzuhalten, um eine Quelle der Einheit zu sein, wenn es Meinungsverschiedenheiten gibt.«
»Glaubt Ihr, sie hält das durch? Sie versucht, allen Ansichten gerecht zu werden, aber Liendra ist nicht die Einzige, die wissen will, woran Ivalaine glaubt.«
Lirith konnte dem nicht widersprechen. Aber was Ivalaine wirklich dachte – das war ein Geheimnis, das warten musste.
Aryn küsste Lirith flüchtig auf die Wange, drehte sich um und lief in einen Korridor; sie sah wie ein dunkelhaariges Mädchen aus, dabei würde der kommende Winter ihr zwanzigster sein. Lirith lächelte, dann drehte sie sich um, um wieder zurückzugehen.
Diesmal geschah es völlig ohne Vorwarnung. Sie hatte nicht einmal die Gabe benutzt, trotzdem war es da, wogte in der Ecke der Eingangshalle: ein in sich verschlungenes, lebendiges Fadenknäuel. Lirith wollte aufschreien, aber dazu fehlte ihr die nötige Luft. Der sich windende Knoten schien gierig nach ihr zu greifen, dabei zog er weitere schimmernde Fäden in sich hinein. Sie erloschen sofort nach der Vereinigung und nahmen ein stumpfes Grau an. Dann spürte Lirith das erste Zupfen an ihrem Bewusstsein. Erinnerungen überfluteten sie. Schon einmal war sie auf diese Weise in eine Katastrophe hineingezerrt worden, die sie verschlungen hatte.
Tanze, mein kleiner Vogel. Ah, dabei bist du gar nicht mehr so klein, und deine Schönheit kannst du auch nicht länger verstecken. Komm, tanze, und sie werden dich mit Gold überschütten. Tanze!
Ein Stöhnen entschlüpfte ihren Lippen, sie fing an zu schwanken. Das Knäuel pulsierte nun schneller, als würden ihre Bewegungen es aufwühlen. Ein grauer Faden schoss
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