Die letzte Rune 05 - Der Tod der Götter
gehen. War er nicht ständig damit beschäftigt, außerweltlichen Reisenden zuzusetzen?
»Sie sind seit über einem Monat nicht in einem Stiftungshaus gewesen, Deirdre. Sie haben nicht auf unsere Schreiben reagiert, Sie haben unsere Rufe ignoriert. Haben Sie den Schwur vergessen?«
Deirdre fummelte an dem leeren Glas herum. »Nein, aber geben wir ihm noch ein paar Minuten und schaun dann mal.«
Farr runzelte die Stirn. »Ich hätte mehr von Ihnen erwartet Deirdre. Sie wissen, dass im Absinth keine Magie ist. Das ist nur ein billiger Trick. Und bis vor kurzem ein ziemlich illegaler.«
Deirdre lachte, ein Geräusch, das genauso bitter war, wie der Absinth es gewesen war. »Das ist es auch, Leute zu verwanzen.«
Sie steckte die seltsame Münze in eine Tasche ihrer Jeans, zog etwas anderes heraus und schob es über den Tisch zu Farr. Es war ein kleiner, kaputter Transistor, der in einem verirrten Lichtstrahl glitzerte.
Farr verzog das Gesicht. Also war er zu einer echten Reaktion fähig.
»Das war wohl kaum meine Idee«, sagte er. »Sie kennen mich doch wohl gut genug, um die Wahrheit darin zu sehen.«
Deirdre wandte den Blick ab, sah in die Dunkelheit. »Ich weiß nicht mehr, was ich weiß.«
Farr streckte eine Hand aus und ergriff die ihre. Sie war plötzlich zu müde, um Widerstand zu leisten. Der Absinth, natürlich.
»Hören Sie mir zu, Deirdre. Wir brauchen Sie. Ich brauche Sie.«
Sie sah ihn noch immer nicht an. »Ich bezweifle, dass ich Ihnen helfen kann. Falls Sie es vergessen haben sollten, er mag mich nicht besser leiden als die Sucher. Dafür haben Sie gesorgt.«
»Verdammt, Deirdre, ich spreche nicht von Travis Wilder. Ich spreche von Ihnen. Sie sind verdammt noch mal eine der Besten, die die Sucher je hatten. Wir brauchen Sie jetzt mehr denn je.«
Endlich wandte Deirdre ihm den Blick zu. »Als ich Sie kennen lernte, Hadrian, habe ich gedacht, ich würde alles tun, um die Mysterien zu verstehen, von denen Sie gesprochen haben, und jeden Preis zahlen. Aber der Preis war schließlich doch zu hoch. Ich habe einen Freund verloren.«
»Wirklich?«
»Was meinen Sie? Dass ich Travis nicht verraten habe?«
»Nein, ich meine, vielleicht war er in Wirklichkeit gar nicht Ihr Freund. Freunde wenden einem nicht einfach den Rücken zu und laufen davon. Sie vergeben uns unsere Fehler.«
Deirdre schüttelte den Kopf. Sie irren sich, wollte sie sagen. Aber ihre Lippen konnten die Worte nicht bilden. Vielleicht glaubte sie in Wirklichkeit gar nicht daran.
»Bitte, Deirdre. Sie müssen die Entscheidung nicht jetzt treffen. Kommen Sie einfach mit mir zum Stiftungshaus zurück. Eine Stunde, mehr verlange ich gar nicht. Dann können Sie gehen, wenn Sie wollen, und wir werden Sie in Ruhe lassen. Das schwöre ich auf das Buch.«
Die kurzen Haare auf Deirdres Nacken prickelten. Warum machte Farr ihr solch ein Angebot? Das entsprach kaum seinem Stil. Dann begriff sie mit einem hellen Blitz, der sich durch den grünen Nebel schnitt, der ihr Gehirn einhüllte.
»Es ist etwas passiert«, sagte sie und setzte sich aufrecht. »Was? Sagen Sie es mir.«
Farr atmete tief ein und nickte dann.
»Sie hat angerufen«, sagte er.
20
Selbst im zementbedeckten Herzen der Stadt konnte Travis Wilder stets sagen, wann der Wind wehen würde.
Er drehte sich um, gerade als ein grobkörniger Luftstoß die Sixteenth Street entlangstob. Seine Kraft wurde noch verstärkt, als er sich durch die schmalen Glas- und Steinschluchten der Innenstadt von Denver zwängte. Zwei Frauen in Stretchröcken und Tennisschuhen wurden in einen Springbrunnen geschoben, der verrückt spielte, und kreischten laut, als das Wasser um sie schäumte. Einige Teenager versuchten vergeblich, den Staub von ihren frischen Piercings fern zu halten. Und ein Beinamputierter hielt zitternde Hände hoch und lachte zahnlos, während Abfall wie Feen aus hellem Papier um ihn herumwirbelte und tanzte.
So plötzlich, wie er gekommen war, legte der Wind sich wieder. Der Springbrunnen kehrte in die Begrenzungen seines Kreises zurück und gab die beiden Frauen frei. Papier senkte sich auf den Bürgersteig, war wieder lebloser Abfall. Travis ging weiter. Er war diese Straße schon ein Dutzend Mal entlang gegangen und hatte nie eine Spur von ihnen gesehen. Trotzdem wusste er, dass er weitersuchen musste. Was sollte er sonst tun?
Eine Bewegung flackerte am Rand seines Blickfelds: eine große, blasse Gestalt, ganz in Schwarz gekleidet, schritt auf langen, schlaksigen Beinen die
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