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Die letzte Rune 06 - Die sterbende Stadt

Titel: Die letzte Rune 06 - Die sterbende Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anthony Mark
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hinter den Maskenschlitzen geweitet. Er hatte ihr mit der Faust gedroht, als wollte er sie schlagen, aber er hatte es nicht getan.
    Du bist nicht besser als ich, du kleine Hure. Du glaubst, du kannst mich mit deinem Zauber verletzen, aber da irrst du dich. Du wirst für diese Sünde bezahlen!
    Aber das hatte sie nicht. Sie war zu ihrem Bett zurückgelaufen, und man hatte sie nicht mehr geholt. Auch zu keinem der anderen Mädchen. Manchmal konnte Grace spüren, wie sie sie beobachteten: Mrs. Broud, wenn sie das Nachtgebet sprachen, oder Mrs. Fulch im Speisesaal. Dann schaute Grace sie an und lächelte. Auf ihre Weise beobachteten sie sie auch.
    Wenn sie manchmal die Treppe zum Erdgeschoss herunterkam, hörte sie sich streitende Stimmen, die schnell verstummten, wenn sie in Sicht kam. Und ein paar Mal hatte einer von ihnen sie mit einem seltsam verkniffenen Blick angestarrt. Erst als Grace bei einem der jüngeren Mädchen den gleichen Blick sah, begriff sie, was er zu bedeuten hatte.
    Angst.
    Irgendwie ließ dieser Blick Grace lächeln. Letzte Woche hatte sie die Köchin im Speisesaal angelächelt. Hör sofort auf damit, du schreckliche Göre, hatte Mrs. Fulch gesagt und keuchend nach Atem gerungen. Dann war sie so schnell aus dem Raum gewatschelt, wie sie nur konnte, die Hand vor den Mund gedrückt, und Mr. Holiday war gekommen und hatte verkündet, Mrs. Fulch sei plötzlich krank geworden und er würde heute für alle Kinder das Mittagessen austeilen.
    Wieder herrschte Stille. Mattie musste ins Bett zurückgekrochen sein und Lisbeth auch. Sarah schnarchte, und Nela schluchzte leise im Schlaf. Sie weinte immer im Schlaf, obwohl sie sich nie am nächsten Tag daran erinnern konnte.
    Oben quietschte wieder der Boden. Mrs. Fulch wankte zurück zu ihrem Zimmer. Bodendielen bogen sich durch. Eine Tür ächzte, als sie geöffnet wurde. Ein langer Augenblick der Stille trat ein.
    Ein Poltern zerriss die Luft.
    Grace schoss im Bett hoch. Sarah und Nela ebenfalls, geistergleich in ihren weißen Nachthemden.
    »Scheiße!«, fauchte Mattie. »Was war das?«
    Lisbeth quiekte. »Sie kommen!«
    Mattie streckte die Hand aus, um sie zu schlagen. Lisbeth sackte auf ihrem Bett zusammen, unterdrückte ihr Schluchzen mit dem Kissen.
    Grace legte den Kopf schräg, lauschte. Da war ein weiteres Poltern, nur dumpfer als das erste. Als würde etwas Weiches, aber schrecklich Schweres zu Boden fallen.
    »Fulch«, flüsterte sie.
    »Was ist los, Grace?«, fragte Nela; ihre kleinen dunklen Hände hielten die Decke ans Kinn.
    Grace glitt wortlos aus dem Bett. Sie legte die Hand auf den Türknauf.
    »Grace!«, flüsterte Sarah. »Du kannst da nicht raus!«
    Wieder war Stille eingekehrt. Aber nein, das stimmte nicht. Ein leises Summen war zu hören, wie die Vibration der Stimmgabel, die Mrs. Broud benutzte, bevor sie beim Weihnachtsessen die Weihnachtslieder sang.
    »Grace!«
    Sie drehte den Knauf, die Tür schwang auf, Licht flutete herein.
    Ein zerlesener Reader’s-Digest -Band lag auf Brouds Stuhl. Die alte Frau war nirgendwo in Sicht. Grace zögerte; den Schlafsaal in der Nacht zu verlassen brach so viele der Regeln, dass es in Fulchs Küche dafür nicht genug Löffel gab. Aber da draußen war etwas. Sie holte tief Luft und trat in den Korridor hinaus. Sie brauchte den anderen nicht zu sagen, im Zimmer zu bleiben. Sie konnte Lisbeths Wimmern hören. Niemand würde ihr folgen.
    Sie ging ein paar Schritte den Korridor entlang. Da – ein Scharren. Es kam von oben, wie Ratten, die über Holz liefen. Sie glaubte zu hören, wie eine Stimme leise, böse Worte sprach.
    Grace ging den Korridor entlang. Türen huschten an ihr vorbei. Keine von ihnen öffnete sich. Stille hatte das Waisenhaus ergriffen. Da war nur ein durchdringendes Summen. Es ließ Graces Unterkiefer vibrieren.
    Vor ihr gähnte eine Öffnung. In der Dunkelheit führten Stufen nach oben. Die Treppe zur zweiten Etage.
    Grace ergriff den abgenutzten Geländerknauf und starrte in die Höhe. Ihre Knie hatten sich in Gummi verwandelt. Sie hätte zurück ins Bett laufen sollen, bevor Broud sie erwischte. Ihr Verhalten war Prügel wert. Mehr als Prügel. Aber sie konnte nicht zurück. Etwas geschah. Sie fühlte es, so wie sie Matties Kränkung gefühlt hatte.
    Wie von einem eigenen Willen beseelt hob sich ihr rechter Fuß und berührte die erste Stufe. Von oben flutete bleiches, silbriges Licht herunter. Es rollte die Stufen herab wie glühender Nebel.
    Tu es, Grace.
    Das Summen steigerte

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