Die letzte Rune 07 - Die schwarzen Ritter
sagte der Ritter und nahm sein Stück Zitrone entgegen, »oder sind die Dinge in den letzten paar Stunden beträchtlich unruhiger geworden?«
Magard lachte. »Wir segeln nicht länger auf dem Meer der Morgenröte, mein Freund. Als wir das Nordhorn der Ödnis umrundet und den Blick auf die Küste von Embarr gerichtet haben, haben wir die Gewässer des Wintermeers erreicht. Das sind kalte und trügerische Meeresarme, voller seltsamer Strömungen und verborgener Riffe, die schon vielen Schiffen den Untergang gebracht haben.«
»Das ist nicht gerade beruhigend«, sagte Grace und zog den Fuchspelzumhang enger.
Der Kapitän legte ihr die Hand auf die Schulter. »Keine Angst, mein Mädchen. Ich bin schon früher in diesen Gewässern gesegelt, und die Schicksalsläufer ist flink genug, um alle Schwierigkeiten zu umfahren, die uns möglicherweise begegnen.«
Grace schenkte dem Kapitän ein dankbares Lächeln.
»Wo ist Vani?«, fragte Beltan und warf seine Zitronenschale über die Reling.
»Eure stumme Freundin?«, sagte Magard. »Ich glaube, sie ist wieder da oben.« Er grinste und zeigte mit dem Finger in die Höhe.
Sie alle schauten auf und entdeckten eine schlanke Gestalt, die auf dem Vormast des Schiffs hockte.
»Sie ist nicht meine Freundin«, knurrte Beltan, drehte sich um und ging.
Magard sah Grace und Falken fragend an.
»Lange Geschichte«, sagte Grace und beließ es dabei.
Im Laufe des Tages wurde der Wind schlimmer und heulte aus dem Norden heran, als wollte er das Schiff auf die zerklüftete embarranische Küste werfen und an den scharfen Felsen in Stücke schlagen. Magard und seine Matrosen arbeiteten ununterbrochen, übertönten das Brausen des Sturms mit Befehlen und Vollzugsmeldungen, rannten vom Vordeck zum Achterdeck, belegten Taue und schnürten Segel zusammen. Grace wünschte sich, sie hätte etwas tun können, um ihnen zu helfen, aber das Beste war, ihnen nicht im Weg zu stehen. Einmal verlor ein Matrose den Griff um ein Tau, und es knallte wie eine Peitsche nur wenige Zentimeter an Graces Gesicht vorbei.
Sie nahm das als Zeichen und kehrte in ihre Kabine zurück. Aber unter Deck waren die Dinge nicht weniger Besorgnis erregend. Der Kabinenboden hob und senkte sich so wild wie der Ritt auf einem Karussellpferd. Irgendwann sah Grace nach Falken und Beltan; die Männer lagen in ihren Kojen, die Augen fest geschlossen, also ließ sie sie in Ruhe. Sie hätte nichts gegen etwas Gesellschaft einzuwenden gehabt, aber zweifellos war Vani noch immer oben auf dem Schiffsmast. Da sie nichts anderes zu tun hatte, setzte sie sich auf den Boden und schloss die Augen.
Sie wollte sich bloß ausruhen; sie versuchte nicht bewusst, mit der Gabe zuzugreifen. Aber sie war nicht schläfrig, und ihre Gedanken mussten sich selbstständig gemacht haben, denn plötzlich war es überall um sie herum: das schimmernde Netz der Weltenkraft.
Grace zog sich nicht zurück. Sie konnte jedes Leben an Bord des Schiffes spüren. Beltan und Falken waren in ihrer Kabine in den Kojen, Kapitän Magard und seine Männer bewegten sich an Deck, und da war Vani, noch immer ganz oben auf einem der Maste. Außerdem krabbelten zahllose winzige Lichtfunken durch den Schiffsbauch. Ratten. Aber auf diese Weise betrachtet erschienen sie nicht so abstoßend. Sie glitten wie Glühwürmchen durch Graces Sichtfeld.
Die Weltenkraft erfüllte Grace mit Wärme und Trost. Sie ließ ihr Bewusstsein weiterwandern. Unter dem Schiff befand sich ein riesiger, leuchtender Ozean voller Leben. Fischschwärme schwebten strahlenden Wolken gleich unter dem Schiffsrumpf, und größere Kreaturen rasten zu schnell vorbei, als dass Grace erspüren konnte, was sie waren. Sie ergötzte sich an dem Gefühl der Verbundenheit und griff noch weiter hinaus.
Es raste wie ein wütender Blitz auf die Schicksalsläufer zu.
Grace riss die Augen auf. Was war es? Sie wusste es nicht. Aber es war groß, das Feuer seiner Lebenskraft brannte wie ein Stern und hob sich vom Netz der Weltenkraft ab. Und es kam direkt auf sie zu.
Grace sprang auf die Füße, stolperte, als das Schiff einen Satz machte, richtete sich wieder auf und stürmte aus der Kabinentür.
»Beltan! Falken!«, rief sie und hämmerte gegen ihre Tür. »Kommt raus!« Ohne abzuwarten erklomm sie den Niedergang zum Deck.
Der Tag war während ihrer Zeit unter Deck dunkler statt heller geworden. Eisenfarbene Wolken trieben über den Himmel, überall um das Schiff herum krachten Wellen in weißen Explosionen
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