Die letzte Rune 10 - Der Runenbrecher
sehen, ob sie noch lebte, aber dafür war keine Zeit. Der Phantomschatten kam wieder auf sie zu. Aber in der ihn umgebenden Lichtaura waren jetzt dunkle Lücken. Aryn hatte das Ding mit ihrem Zauber verletzt.
»Richte dem Fahlen König aus, dass das meine Antwort ist«, sagte Grace.
Sie zog Fellring und stieß das Schwert in den Phantomschatten. Die Klinge glitt durch den schlanken Körper des Wesens hindurch. Bittere Kälte machte Graces Arm taub, aber sie ignorierte es und drehte die Klinge um.
Der Schrei des Phantomschattens verstummte, die Lichtaura erlosch. Das Ding rutschte von Graces Schwert und stürzte zu Boden, so dunkel und dünn wie ein Haufen verbrannter Äste. Es war tot.
Durge war es nicht. Grace holte zischend Luft, als sich der Ritter auf die Beine stemmte. Er streckte die Arme aus und blickte auf seine Hände. Die Krämpfe hatten aufgehört. Er schaute auf, und der Schmerz war aus seinem Gesicht verschwunden.
Das war unmöglich. Die Dosis Weidenwurzel, die sie auf die Wunde gekippt hatte, hätte ein Pferd umgebracht. Sie hätte sein Herz auf der Stelle anhalten müssen.
Aber es schlägt doch sowieso schon nicht mehr, oder?
Sie hätte es wissen müssen. Er war kein echtes Eisenherz – da war nur ein Eisensplitter in seinem Herzen – aber der Effekt war der gleiche. Er fühlte Schmerz, aber nicht für lange, und kein Gift konnte ihn töten. Denn Durge war bereits tot.
Grace hielt Fellring ausgestreckt, dann senkte sich die Spitze zu Boden. Es war sinnlos; welche Kraft sie auch gehabt hatte, sie war verschwunden. Tarus und Paladus und die anderen erzielten Erfolge gegen die Feydrim, aber sie würden den Durchbruch niemals rechtzeitig schaffen. Aryn lag auf dem Boden, so still und bleich wie aus Eis gemeißelt. In einem Augenblick würde Grace ihr folgen.
»Ich kann es nicht tun, Durge«, sagte sie leise. »Ich weiß, was Ihr seid, aber ich kann es trotzdem nicht tun.« Fellring entglitt ihren Fingern und landete scheppernd auf dem Boden. »Ich kann Euch nicht töten.«
Durge betrachtete Aryns leblose Gestalt. »Liebe ist eine Schwäche.« Ein Schauder durchfuhr ihn, seine Schultern bebten. War das die letzte Auswirkung der Weidenwurzel?
Es spielte keine Rolle. Das Zittern verging. Durge zog ein Messer aus dem Gürtel und packte den Griff so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten.
»Verzeiht mir, Mylady«, sagte er.
Bevor Grace über diese Worte staunen konnte, stach Durge zu.
Eine Stimme brüllte wütend. Vermutlich war das Sir Tarus, aber Grace konnte sich nicht sicher sein. Das Schwertergeklirre und die Schreie der Feydrim hallten von den Wänden. Eine weitere Gestalt erschien in der Seitentür, sie war grau. Zuerst hielt Grace sie für einen weiteren Phantomschatten, aber da war kein silbernes Licht. Etwas zischte durch die Luft. Plötzlich ragte ein Pfeil aus Durges Seite, dann noch einer und noch einer. Der Ritter stürzte. Aus den Wunden floss Blut.
Dann verschwand das Blut wie zuvor. Der Steinboden war makellos sauber und unbefleckt.
»Euer Majestät!«, schrie eine Stimme.
Die Gestalt in Grau kämpfte sich an den Feydrim vorbei. Dutzende der Kreaturen lagen verkrümmt am Boden. Die Männer kämpften sich durch sie hindurch. Es war fast vorbei.
Fast vorbei …
Grace sah nach unten. Sie erwartete, den Messergriff aus der Mitte ihrer Brust ragen zu sehen. Aber die Klinge hatte den Stoff ihres Gewandes nur über ihrem linken Schlüsselbein durchbohrt. Der Stoß war weit am Herzen vorbeigegangen; er war auch nicht tief. Als sie nach dem Messer griff, löste es sich bereits von selbst; Blut floss und beschmierte ihre Finger.
Blut. Wie Durges Blut, das die Steine scheinbar tranken. Grace sank auf die Knie. Sie sah auf den Boden, wo keine Binsen mehr lagen. Fünf parallele Rillen zogen sich über die Steinplatten, zu präzise und genau, um zufällig entstanden sein zu können. Sie hatte das gleiche Muster schon zuvor gesehen, auf Kelephons Schiff, als er ihr Blut hatte stehlen wollen, damit er Fellring führen konnte.
Und endlich begriff Grace. Sie führte die Hand zum Boden, dann verharrte sie.
Durge sah sie an. Er lag verkrümmt da, die Wange auf dem Stein, aus seinem Körper ragten Pfeile. Seine braunen Augen waren auf sie gerichtet. Das eine war tot und leblos, aber in dem anderen funkelte ein vertrautes Licht, sanft und wahrhaftig. Den Schmerz der Messerwunde hatte Grace nicht gespürt, aber diesen Schmerz fühlte sie, und er war unerträglich.
»Tut es, Mylady.«
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