Die letzte Schlacht
Dutzend Schritte weit in die Menge, die sich um das Geschütz drängte. Sie wollte ihren Männern gratulieren, doch sie waren verschwunden, in der Woge untergegangen. Kell schlug dreimal rasch zu, während unzählige Hände sie herabzureißen drohten und immer mehr Tote auf das Gestell kletterten. Mit ihrer scharfen Klinge durchtrennte sie das Seil. Wieder ein Geschütz ausgeschaltet, wieder ein Wurfarm, der Tote unter sich begrub, zerschmetterte und kampfunfähig machte.
Kell hob den Kopf und sah sich um. Sie war allein. Alle ihre Leute waren entweder tot oder geflohen. Trotzig richtete sie sich auf. Am Hang des Hügels lief ein Mann mit einem Knaben entlang. Sie waren höchstens fünfzig Schritte entfernt und doch unerreichbar wie ferne Erinnerungen. Ihre Gesichter strahlten gesund und rosa. Oder jedenfalls das des Jungen. Der Mann ging ein wenig unsicher und stützte sich auf die Schulter des Knaben. Andere Männer folgten den beiden. Es waren drei – der Kleidung nach Tsardonier, aber keine Krieger.
Ein Schwerthieb traf Keils Wade. Sie stolperte, stürzte jedoch nicht. Es war zu spät, um sich zu wehren. Zu spät, um noch mehr als das zu tun, was sie schon erreicht hatte. Der lebende Feind betrachtete sie. Sie hob das Schwert und zielte mit der Spitze auf ihn.
»Du bist erkannt«, sagte sie und wusste, dass er sie verstand, denn es gab keinen Lärm, der stören konnte. »Du wirst besiegt werden.«
Eine weitere Klinge fuhr unter ihren Brustharnisch. Eine sengende Hitze und ein unerträglicher Schmerz durchfluteten sie. Kell schauderte, als das Blut aus ihrem Körper schoss. Sie war schwach, versuchte aber immer noch, das Gleichgewicht zu halten.
»Komm zu mir, komm mit uns und freue dich«, sagte der Mann.
»Mit dir werde ich niemals gehen«, erwiderte Kell.
Noch hatte sie genug Kraft in sich. Sie hob die Klinge, streckte das rechte Bein und trieb die Klinge durch ihr Fußgelenk. Als es um sie dunkel wurde, betete sie, es sei genug.
»Ich höre dich, Pavel«, sagte sie. »Ich bin hier.«
20
859. Zyklus Gottes,
1. Tag des Genasab
D reihundertachtundfünfzig waren gestorben. Doppelt so viele waren verletzt, und das war nur die Anzahl, von der die Ärzte im Palast wussten. Niemand konnte sagen, wie viele ihre Wunden hatten in der Stadt versorgen lassen. Es war ein vernichtendes Werk gewesen. Vasselis konnte nur bedauern, dass er dies nie auf dem Schlachtfeld gesehen hatte.
Die Ereignisse der Tage nach der Katastrophe waren völlig vorhersehbar gewesen. Gesteris hatte zwar der Advokatin seine Unterstützung entzogen, aber dennoch unermüdlich mit Elise Kastenas zusammengearbeitet, um den Palast in eine Festung zu verwandeln. Inzwischen standen Onager im Innenhof und den Gärten, die von Mauern geschützt waren. Die Soldaten hatten Bailisten und Skorpione aus den Lagern geholt und auf den Wällen und Türmen montiert. Gesteris hätte nie gedacht, dort einmal solche Waffen zu sehen. Gardisten, Legionäre und Milizen hatten Verteidigungsmanöver eingeübt.
Es hätte schon ein ganzes Heer gebraucht, um die Advokatin und die Menschen im Palast zu gefährden.
Draußen sammelten sich unterdessen die Gottesritter. Schwer zu sagen, ob es ein waghalsiges politisches Manöver oder echte Betroffenheit war, doch es war gewiss eine hässliche Entwicklung und auf jeden Fall eine Belagerung.
Vasselis hielt sich wie häufig in der letzten Zeit in den Prunkräumen auf. Von dort aus hatte er einen unvergleichlichen Blick auf das Siegestor, dessen Name nach allem, was sich unlängst in seinem Schatten abgespielt hatte, einen unschönen Beiklang bekommen hatte. Der Platz dahinter hatte sich inzwischen in einen Bereich verwandelt, in dem Wasser- und Essensrationen ausgegeben wurden. Er selbst hatte die Aufsicht über diese heikle Aufgabe übernommen.
Estorr war verloren, die Advokatur hatte keine Kontrolle mehr über die Stadt, der Orden hatte jetzt das Sagen. Die Bürger waren nicht wieder vor dem Tor aufgetaucht, um ihrem Unmut über die Ereignisse Luft zu machen. Dafür sorgte schon ihre Angst. Doch sie hatten ihre Wut in der ganzen Stadt ausgelassen. Drei Tage lang hatten sich die Unruhen hingezogen, bis der Orden am Morgen eingeschritten war und die Menschen zu weniger zerstörerischen Protesten bewegt hatte. Allerdings hatten die Priester entgegen Vasselis’ dringender Bitte nicht mit der Evakuierung begonnen. Sie konnten oder wollten es immer noch nicht glauben, und die Bürger folgten ihnen
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