Die Letzte Spur
aus können Sie problemlos zu Fuß zu ihr gehen. Ein kleines Stück die Straße entlang, dann gleich rechts. Das dritte Haus auf der linken Seite. Dort wohnt sie.«
»Und wo ist ihr Atelier?«
»Im selben Haus. Es ist wirklich ganz einfach.«
Vielleicht würde ich umkehren, wenn es nicht so einfach wäre, dachte Rosanna, als sie wieder draußen stand.
Fünf Minuten später langte sie vor Jacquelines Atelier und Wohnhaus an. Ein uraltes, sehr kleines Häuschen mit weiß gekalkten Wänden, einer leuchtend rot lackierten Eingangstür und einem tief gezogenen Strohdach. Es gab einen winzigen Vorgarten, in dem ein Meer von Krokussen wuchs. An der Hauswand war ein Spalier befestigt, an dessen Fuß ein zurückgeschnittener Rosenstrauch stand. Im Sommer mussten seine Blüten die gesamte Vorderfront überwuchern.
Die Idylle war perfekt, aber der Unterschied zu London, zu dem Haus in Belgravia, dem einstigen Wohnsitz der Reeves, drängte sich Rosanna so heftig auf, dass sie schlucken musste. Dieses Haus hier in Binfield Heath vermittelte ein so völlig anderes Lebensgefühl, stand für eine ganz andere Welt, eine andere Lebensweise. Wie mochte der kleine Josh diese jähe Veränderung empfunden haben?
Sie öffnete das Gartentor, ging über nasse, unregelmäßig geformte graue Steine zur Haustür. Auf ihr vorsichtiges Klopfen reagierte niemand, dafür gab die Tür nach, als sie vorsichtig dagegendrückte. Ein leises Bimmeln ertönte. Rosanna stand in einem kleinen Vorraum, an dessen Wänden etliche Bilder hingen. Ausnahmslos schien es sich um Motive aus der Gegend zu handeln. Eine Weide am Fluss. Ein paar Hügel in dunstigem Morgenlicht. Ein Segelboot auf der Themse. Die Aquarelle hätten kitschig anmuten können, taten es jedoch nicht. Rosanna dachte, dass sie einfach nur schön waren. Jedes davon hätte sie sofort in ihrem Zimmer aufgehängt.
Die Luft war gesättigt mit dem Geruch nach Farbe und Terpentin. Ein dicker, dunkelgrüner Vorhang verhinderte den Blick in das angrenzende Zimmer. Irgendwo spielte leise Klaviermusik.
»Ja bitte?« Eine Frau trat durch den Vorhang und sah Rosanna an. Sie trug über einem dunkelgrauen Rollkragenpullover und Jeans ein bis zu den Knien reichendes weißes Männerhemd, das über und über mit Farbspritzern und Klecksen bedeckt war. Ihre dunklen Haare hatte sie am Hinterkopf zusammengezwirbelt und mehr schlecht als recht mit etlichen Spangen fixiert. Sie war völlig ungeschminkt.
Trotzdem war sie eine der schönsten Frauen, die Rosanna je gesehen hatte.
Sie musste schon wieder schlucken. Wer hätte gedacht, dass Marc mit einer so attraktiven Frau verheiratet gewesen war? Wieso hatte sich Jacqueline je Sorgen gemacht, er könne sie betrügen? Welche Frau hätte sie schon ausstechen können?
Nicht unfreundlich, aber etwas ungeduldig fragte Jacqueline: »Kann ich etwas für Sie tun? Ich bin gerade am Arbeiten …«
Plötzlich fand sie sich selbst vollkommen unmöglich. Zudringlich und indiskret. Plump. Am liebsten hätte sie irgendeine Entschuldigung gemurmelt und sowohl das Haus als auch das ganze Dorf fluchtartig wieder verlassen, aber aus irgendeinem Grund mochten sich ihre Beine nicht bewegen. Sie stand wie blockiert.
»Jacqueline Reeve?«, fragte sie.
»Ja, die bin ich.«
Rosanna gab sich einen Ruck und streckte ihrem Gegenüber die Hand hin. »Rosanna Hamilton.«
Jacqueline wischte sich die Hand an ihrem Hemd ab, erwiderte dann den dargebotenen Gruß. »Freut mich, Mrs. Hamilton. Was führt Sie zu mir?«
»Es ist etwas kompliziert …«, sagte Rosanna zögernd.
»Geht es um die Bilder? Um meine Ausstellung nächste Woche?«
»Nein. Nein, es hat damit nichts zu tun. Ich …« Es war warm in dem Raum. Rosanna brach unter ihrem dicken Wintermantel der Schweiß aus.
»Es geht um Ihren Mann«, sagte sie, sich einen Ruck gebend. »Um Ihren Exmann. Um Marc Reeve.«
Jacquelines Blick verdüsterte sich sofort. Ohne dass sie einen Schritt zurücktrat, schien doch plötzlich eine fast räumliche Distanz zwischen ihr und ihrer Besucherin zu entstehen.
»Oh. Ich wüsste nicht, was …«, begann sie.
Rosanna hatte inzwischen etwas von ihrer Sicherheit zurückgewonnen. »Bitte«, sagte sie, »es ist wichtig. Hätten Sie ein paar Minuten Zeit für mich?«
Jacqueline wirkte nicht glücklich über dieses Ansinnen. »Ich bin mitten in der Arbeit. Ich habe nächste Woche eine Ausstellung, und ich weiß kaum, wie ich bis dahin …«
»Ein paar Minuten«, unterbrach Rosanna.
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