Die Letzte Spur
ihrem Job als Journalistin.
Und plötzlich wusste sie, was sie tun wollte. Etwas, wozu sie nicht verpflichtet war. Was niemand von ihr erwartete. Am wenigsten Marc.
Sie kippte den restlichen Tee in die Spüle, zog ihre Stiefel und ihren Mantel an, bürstete sich noch einmal kurz über ihre Haare, die sich bei dem feuchten Wetter heute besonders widerspenstig aufführen würden.
Sie nahm den Autoschlüssel und verließ die Wohnung.
2
Sie hoffte, dass sie sich an den Namen richtig erinnerte. Marc hatte ihn nur einmal erwähnt. Binfield Heath.
In Marcs Autoatlas hatte sie den Ort bald gefunden. Binfield Heath, nicht weit von Henley-on-Thames gelegen. Dort war sie früher schon manchmal gewesen. Es war zehn Uhr, als sie auf die M40 Richtung Oxford fuhr.
Schon bald verließ sie den Motorway wieder und suchte sich den Weg über Landstraßen durch idyllische kleine Dörfer und Städtchen, die entlang der Themse lagen. Der Nebel war nicht mehr so dicht wie am frühen Morgen, aber noch immer woben sich seine dunstigen Schleier über Wiesen und Mauern, über schwarz glänzende, nasse Baumäste, über Hausdächer, Ställe und Weiden. Immer wieder sah sie plötzlich Kirchen auftauchen oder gemauerte Gehöfte, die inmitten weiter Wiesen ruhten. Ein paar Mal gewahrte sie den Fluss, einmal einen großen schwarzen Schleppkahn, der langsam und fast majestätisch über das Wasser glitt. Der Nebel ließ ihn, genau wie die Dörfer und Wälder ringsum, melancholisch und einsam erscheinen. Die Welt war nass, still, wie ausgestorben. Immer wieder wurde Rosanna von einem Frösteln befallen, das nicht von eigentlicher Kälte herrührte, denn die Heizung funktionierte zuverlässig. Es war die Stimmung ringsum, die sie frieren ließ. Sie wusste, dass sie durch eine der schönsten Gegenden Englands fuhr und dass die Dörfer im Sommer oder auch nur bei klarem Wetter ein Traum waren. Am heutigen Tag waren sie einfach nur trostlos. Sie hätte doch auf der Autobahn bleiben sollen.
Sie passierte die Orte Marlow, Henley und Shiplake. Der nächste Ort war Binfield Heath.
Ein kleines Dorf, das an diesem grauen Tag, der keine Sicht zuließ, nur wie eine zufällige Ansammlung einiger weniger Häuser irgendwo in der Landschaft wirkte. Vermutlich kletterten Straßen und Wohnhäuser die Hügel ringsum hinauf, aber sie verschwanden völlig hinter den grauen Schleiern. Es gab eine Kreuzung im Dorfkern, an der ein wuchtiges Backsteingebäude stand, das einen Laden und ein Postamt zu beherbergen schien, und es sah so aus, als handele es sich dabei um die einzigen Geschäfte am Platz. Ein Schild wies darauf hin, dass man im Sommer im angrenzenden Garten Tee trinken konnte und Gebäck serviert bekam.
Hübsch, dachte Rosanna. Sie parkte vor dem Haus und beschloss, sich dort nach Jacqueline Reeve zu erkundigen. Sie vermutete, dass in diesem Dorf jeder jeden kannte und dass der Laden, vor dem sie stand, Mittelpunkt und Umschlagplatz aller Nachrichten und Informationen war.
Kälte und Nässe schlugen ihr unangenehm entgegen, als sie das warme Auto verließ. Für einen Moment zögerte sie. War es verrückt, was sie tat? Noch konnte sie umkehren. Binfield Heath und Jacqueline Reeve unbehelligt lassen. Und nicht nur das. Sie konnte nach London zurückfahren, Marcs Auto wieder vor seinem Haus abstellen, ihren Koffer nehmen und sich in den Zug nach Taunton setzen. Dad und Cedric besuchen und dann gemeinsam mit einem wahrscheinlich überglücklichen Rob zurück nach Gibraltar fliegen. Das alte Leben wieder aufnehmen. Ihr Zwischenspiel in England, Elaine, Pamela, Pit Wavers und Marc vergessen.
Ich bin wahnsinnig, wenn ich das nicht tue, dachte sie, und mit einem plötzlich fast panischen Gefühl fügte sie hinzu: Vielleicht verliere ich völlig die Kontrolle.
Trotzdem verriegelte sie den Wagen, schlug den Mantelkragen hoch und betrat den Laden, in dem es von Tee und Kaffee über Nägel und Schrauben bis hin zu Zeitungen und Postkarten alles gab, was zum täglichen Bedarf der Bevölkerung gehörte. Hinter der Theke stand eine junge Frau, die ein wenig gelangweilt in einer Illustrierten blätterte. Wie zu erwarten gewesen war, kannte sie Jacqueline Reeve.
»O ja, ich weiß, wo sie wohnt! Sie ist eine wirklich begabte Malerin! Wir sind hier recht stolz auf sie!« Sie musterte Rosanna neugierig. »Sind Sie eine Galeristin?«
»Nein. Es geht eher um eine … private Angelegenheit.«
»Ach so.« Die Verkäuferin schien etwas enttäuscht. »Also, von hier
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