Die Letzte Spur
seiner Küchenzeile.
»Pass auf, ich schlage dir etwas vor«, sagte er. »Du fährst nach Kingston St. Mary. Allein. Besuchst deinen Bruder und deinen Vater. Versuchst für dich zu klären, wie es weitergehen soll. Was du als Nächstes tun willst. All diese Dinge. Nimm dir Zeit dafür.«
»Ich finde es sehr schwer, jetzt von dir wegzugehen.«
»Glaubst du, mir fällt es leicht, dich gehen zu lassen? Aber du hast eine Familie. Deinen Mann und deinen Stiefsohn. Für mich ist es leichter, mich auf dich einzulassen. Du musst einen weit gewichtigeren Schritt tun. Vielleicht brauchst du einfach ein paar Tage Ruhe.«
Sie wusste, dass er recht hatte. Aber der Gedanke, ihn zurückzulassen, tat überraschend heftig weh.
»Du kannst meinen Wagen haben«, sagte Marc, »ich brauche ihn weder jetzt noch über das Wochenende.«
»Aber …«
»Bitte, nimm ihn. Wenigstens zwingt dich das …«
»Wozu?«, fragte Rosanna, als er nicht weitersprach.
Er stellte seine Kaffeetasse ab, nahm Rosanna die ihre sanft aus der Hand. Er presste sich an sie, vergrub sein Gesicht an ihrem Hals.
»Es zwingt dich, zu mir zurückzukommen«, flüsterte er, »denn schließlich kannst du nicht mit einem Auto durchbrennen, das dir nicht gehört. Komm irgendwann in der nächsten Woche wieder. Bitte. Länger werde ich es nicht aushalten können.«
Nachdem Marc die Wohnung verlassen hatte, spülte Rosanna die Tassen ab, räumte sie in den Schrank. Sie ging ins Schlafzimmer hinüber, um das Bett zu machen, drückte ein paar Sekunden lang ihre Nase in das Laken, roch den Duft, der von ihrer Nacht mit Marc geblieben war. Sie erinnerte sich an den gestrigen Tag, an dem sie sich so sehr danach gesehnt hatte, in das Dorf ihrer Kindheit zu fliehen, sich in ihrem Elternhaus zu verkriechen, nach den vergangenen Tagen ihren Frieden wiederzufinden. Nichts war von diesem Bedürfnis geblieben, es war über Nacht vollständig in sich zusammengefallen. Sie war voller Schuldgefühle bei dem Gedanken an ihren Bruder, der verletzt und zerschlagen im Krankenhaus lag, aber es drängte sie nicht mehr zu ihm hin. Sie wollte nichts, als bei Marc bleiben. Wollte ihn erwarten, wenn er am Abend zurückkehrte. Wollte mit ihm in das bunte Londoner Nachtleben eintauchen, irgendwo etwas essen, einen Wein trinken. Arm in Arm mit ihm zurücklaufen. Die ganze Nacht in seinen Armen liegen.
Sie ging ins Bad hinüber, schaute im Spiegel in ihre Augen. Sie waren groß und glänzend.
»Schöner Mist«, sagte sie, »dich hat es komplett erwischt. «
Nachdem sie jede Menge sinnloser Dinge getan hatte, die im Augenblick überhaupt nicht anstanden – imaginären Staub im sauberen Bücherregal gewischt, den spärlichen Inhalt des Wäschekorbs im Bad in die Waschmaschine gesteckt, den fast leeren Müllbeutel hinuntergebracht –, gab sie es auf, sich selbst vorzumachen, sie werde irgendwann im Lauf des Tages noch nach Taunton aufbrechen. Sie schaffte es nicht. Nicht nur, weil sie die Trennung von Marc fürchtete. Sie hatte Angst vor allem, was sie erwartete: Telefonanrufe von Dennis und Rob, die sanften Vorhaltungen ihres verstörten Vaters, Cedrics Warnungen. Wie musste das alles auf die anderen wirken? Sie hatte ihr Unbehagen der letzten Jahre so erfolgreich geheim gehalten, manchmal sogar sich selbst gegenüber nicht zugelassen, dass jeder denken musste, sie werfe eine glückliche Ehe hin für eine kurze Sexaffäre. Zumindest fast jeder. Cedric hatte etwas gemerkt. Aber alle anderen … Man würde sie für verrückt halten. Niemand würde sie verstehen. Sie würde sich das ganze Wochenende über rechtfertigen und am Ende doch keine Absolution bekommen.
Sie machte sich schließlich einen heißen Tee, und während sie ihn in kleinen Schlucken, am Fenster stehend, trank, dachte sie nach.
Cedric braucht mich im Moment nicht. Er hat Daddy, der sich um ihn kümmert. Rob ist bei seiner Mutter, und auch wenn er sich dort nicht sonderlich wohl fühlt, ist der Aufenthalt wichtig für ihn. Dennis macht seine Arbeit und rechnet ohnehin damit, dass ich noch eine Weile in England bleibe. Er erwartet mich nicht so bald. Den Auftrag für Nick habe ich abgebrochen. Um Pamela Luke kümmert sich Scotland Yard, und wenn mit ihr wirklieb irgendetwas nicht in Ordnung ist, so ist das zumindest nicht meine Sache.
Sie war frei. Im Grunde war sie frei zu tun, was sie mochte. Zum ersten Mal seit langer Zeit. Frei von ihrem Job als Ehefrau und Mutter. Frei von ihrem Job als Tochter und Schwester. Frei von
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