Die Letzte Spur
genommen: um das Nicht -Verhältnis, das er zu seinem Vater hat. Was ja auch ein Stück weit mit dem Fall Dawson und dem nie ganz ausgeräumten Verdacht gegen Marc zu tun hat.«
»Und?«
»Jacqueline, Marc leidet entsetzlich. Er hat resigniert, was Josh angeht, aber die Tatsache, dass sein Sohn jeglichen Kontakt zu ihm abgebrochen hat, liegt wirklich als dunkler Schatten über seinem Leben. Er vergräbt sich in seine Arbeit, hat wohl auch Erfolg, aber er ist ein zutiefst einsamer Mann, der keine echte Lebensfreude mehr empfinden kann.«
»So einsam kann er nicht sein. Er hat ja Sie!«
»Aber ich ersetze ihm nicht sein eigenes Kind. Das ist es ja, was ich als so schlimm empfinde: Er ist einsam, auch wenn ich bei ihm bin. Er ist einsam unter einer Million Menschen. Er ist traurig, auch wenn er lacht. Er ist ohne Hoffnung.«
»Tja«, sagte Jacqueline, aber sie war nicht ganz so gelassen, wie sie tat. Sie nahm ein Zigarettenpäckchen von der Anrichte, hielt es Rosanna mit fragendem Blick hin und zündete sich, nachdem ihr Gast abgelehnt hatte, selbst eine Zigarette an. Sie inhalierte tief.
»Und wie kann ich Ihnen bei dem Problem helfen?«, fragte sie.
Rosanna sah sie eindringlich an. »Meinen Sie nicht, dass es eine Möglichkeit der Annäherung von Josh an seinen Vater gäbe? Einfach ein kurzes Treffen. Ein kurzes Gespräch.
Irgendeine Chance, dass der abgerissene Faden wieder aufgenommen wird? Wenn sich nun herausstellt, dass Marc wirklich kein Verbrechen begangen hat, und wenn …«
»Rosanna! Wachen Sie auf!«, sagte Jacqueline schroff. Sie erhob sich, blieb mitten in der Küche stehen, die brennende Zigarette in der Hand. »Ich habe keinen Moment lang geglaubt, dass Marc etwas mit dem Verschwinden von dieser Dawson zu tun hatte. Und ich weiß, dass auch Josh im tiefsten Innern das nicht geglaubt hat und immer noch nicht glaubt. Wenn die Polizei nun einen Täter ausfindig gemacht hat und wir ihn in den nächsten Tagen als Schlagzeile in einer Zeitung präsentiert bekommen, so ist das für uns nicht die ganz große Überraschung. Es freut mich, wenn Marc dann endlich ein für alle Mal reingewaschen ist, die Sache hat ihm weiß Gott zugesetzt. Aber für mich ist das kein Aha-Erlebnis. Und für meinen Sohn auch nicht.«
»Aber …«
»Natürlich hat Josh den Fall damals aufgegriffen. In der Art: Siehst du, Daddy ist wirklich ganz schrecklich, nun hat er auch noch eine Frau umgebracht! Er hat das gewissermaßen als zusätzliche Rechtfertigung für seinen eigenen Rückzug benutzt. Die Schuldgefühle, die er vielleicht seinem Vater gegenüber doch hatte, damit zum Schweigen gebracht. Niemand konnte ihn zwingen, seine Wochenenden mit einem Mann zu verbringen, an dem dieser Verdacht klebte, nicht wahr? In gewisser Weise kam ihm diese Geschichte gar nicht ungelegen. Und löste natürlich zugleich eine heftige Ambivalenz in ihm aus: Er hasste seinen Vater umso mehr wegen der Presseberichte. Jeder in seiner Schule wusste Bescheid, seine Freunde im Fußballclub, alle Nachbarn … Josh war noch keine zehn Jahre alt. Was glauben Sie, wie schlimm es für einen Jungen ist, den eigenen Vater in dieser Weise bloßgestellt zu erleben? Vergewaltiger und Mörder! Auf welch tönernen Füßen diese Vorwürfe standen, wie rasch der Verdacht von Seiten der Polizei fallen gelassen wurde, das hat doch niemanden interessiert. Die Leute fanden es herrlich schaurig und spannend. Es war ein Spießrutenlauf für uns beide. Und für Josh bestimmt noch schlimmer.«
»Das kann ich gut nachvollziehen«, sagte Rosanna, »es muss furchtbar gewesen sein. Aber … Jacqueline, bitte sagen Sie mir, wenn ich Ihnen zu aufdringlich und zu indiskret bin, aber ich kann mir das nicht erklären. Ich kann mir diesen Hass eines Jungen auf seinen Vater nicht erklären.«
Jacqueline lachte, ohne dabei im Geringsten fröhlich zu wirken. Sie drückte ihre Zigarette auf einem Teller aus und setzte sich wieder. »Josh hat sich von Marc getrennt, Rosanna, unwiderruflich. Genau wie ich.«
Sie wusste, dass sie eine Grenze überschritt. »Warum? Warum diese Trennung?«
Jacqueline sah sie einen Moment lang schweigend an. Nicht feindselig, eher nachdenklich. Rosanna fürchtete, dass sie gleich aufstehen und das Gespräch für beendet erklären würde. War nett, Sie kennen gelernt zu haben, Rosanna, aber meine Eheschwierigkeiten gehen Sie nichts an. Lernen Sie Marc doch selbst kennen. Das Leben mit einem anderen Menschen besteht aus mehr als ein paar
Weitere Kostenlose Bücher