Die Letzte Spur
»Bitte!«
Jacqueline kapitulierte. Sie mochte die Dringlichkeit in Rosannas Stimme wahrnehmen, aber vielleicht, so dachte Rosanna, ist sie ja auch einfach ein bisschen neugierig.
»Okay«, sagte sie und schob den Vorhang zur Seite, »kommen Sie und setzen Sie sich. Legen Sie doch Ihren Mantel ab. Möchten Sie einen Tee?«
»Sie sind also Marcs Neue«, sagte Jacqueline. Sie klang nicht unfreundlich, nur ein wenig belustigt. Sie hatte Rosanna nicht in ihr Atelier geführt, sondern ihr in einer winzigen Küche einen Platz an einem kleinen Bistrotisch angeboten. Rosanna hatte endlich ihren dicken Mantel abgelegt und begann sich langsam zu akklimatisieren. In einem Spiegel mit rattangeflochtenem Rahmen, der an der Wand hing, erhaschte sie einen flüchtigen Blick auf ihr blasses, spitzes Gesicht und die dunklen Haare, die sich wegen der Feuchtigkeit draußen wie befürchtet noch wilder gebärdeten als sonst. Resigniert fragte sie sich, ob irgendwann einmal der Tag käme, an dem sie mit sich und ihrem Aussehen zufrieden wäre. Wahrscheinlich nie. Schon gar nicht, solange ihr Schönheiten wie Marcs Exfrau über den Weg liefen.
Es gab einen sehr heißen, süßen Früchtetee. Von nebenan erklang noch immer die beruhigende Klaviermusik.
Wahrscheinlich Jacquelines Art, Inspiration zu finden. Welch ungewöhnliche Art zu leben! Das Dorf, der Nebel, der Geruch nach Farbe … die Stille, in der nur die Pianoklänge zu hören waren … Dafür hatte sie also das Londoner Leben an der Seite eines Mannes wie Marc aufgegeben.
»Na ja«, sagte Rosanna nun auf Jacquelines Bemerkung hin, »wir kennen uns noch nicht allzu lang. Aber wir sind …« Sie stockte.
» … schwer verliebt«, beendete Jacqueline den Satz, »ja, das kann ich mir vorstellen. Er ist ein sehr attraktiver Mann. Er ist verständnisvoll, großzügig und liebenswürdig. Ich kann verstehen, dass Sie sich in ihn verliebt haben.«
Sie sagte dies sehr offen und unverkrampft. Rosanna lauschte nach einem Hauch von Ironie in ihren Worten, konnte jedoch nichts davon spüren. Jacqueline schien aufrichtig zu meinen, was sie sagte.
»Mrs. Reeve, ich …«
»Nennen Sie mich ruhig Jacqueline.«
»Jacqueline, ich bin mir absolut nicht sicher, ob es richtig ist, hier bei Ihnen zu sitzen. Den Entschluss, Sie aufzusuchen, traf ich heute früh ganz spontan. Marc hat keine Ahnung davon. Vielleicht wäre er entsetzt.«
»Wahrscheinlich.«
»Aber es gibt ein paar Unklarheiten, die ich… Es gibt Dinge, die für mich sehr schwer verständlich sind …« Sie brach ab. Ich hätte nicht kommen sollen, dachte sie unglücklich. Ich stammle herum, und das alles ist mir peinlich.
Jacqueline lehnte sich nach vorn. »Was möchten Sie wissen, Rosanna? Was beunruhigt Sie so sehr? Ist es die Geschichte von damals?«
»Sie meinen …«
»Die Geschichte mit dieser Frau. Wie hieß sie noch … Madeleine … ?«
»Elaine. Elaine Dawson.«
»Genau. Elaine Dawson. Sie kennen den Fall?«
Nur zu gut! »Ja.«
»Sie wollen von mir wissen, ob ich glaube, dass mein Mann Elaine Dawson umgebracht hat? Sie haben Angst, dass Sie sich in einen Mörder verliebt haben?«
Rosanna lehnte sich zurück, ein wenig entspannter. Wenigstens in dieser Frage war sie von Anfang an sicher gewesen. »Nein. Diese Angst habe ich nicht. Aber mein Besuch bei Ihnen hat etwas mit dem Fall Dawson zu tun, das ist richtig. Es ist zu langwierig, Ihnen jetzt alles zu erklären, aber es sieht so aus, als ob sich das Rätsel gerade auflöst. Elaine Dawson ist wohl tatsächlich Opfer eines Verbrechens geworden. Mit fast neunundneunzigprozentiger Sicherheit kennt die Polizei den Täter.«
Pit Wavers. Der tote Pit. Und was ist mit Pamela Luke?
Es war nur ein kurzer Gedanke, der ihr durch den Kopf schoss. Pamela hatte London verlassen. Was, wenn sie zu Cedric geflohen war? Könnte das sein? Und was bedeutete es für Cedric, wenn sie tatsächlich nicht das Unschuldslamm war, das alle in ihr gesehen hatten?
Befindet sich mein Bruder in der Gesellschaft einer Mörderin?
Sie verdrängte das Bild sofort. Es war nicht der Moment, darüber nachzugrübeln. Aber Jacqueline hatte die Veränderung in ihrem Blick gesehen.
»Tatsächlich?«, fragte sie. »Der Fall ist geklärt?«
»So gut wie. Ich vermute, dass in den nächsten Tagen auch die Presse darüber berichten wird. Und das brachte mich auf die Idee …«
»Auf welche Idee?«
Rosanna gab sich einen Ruck. »Es geht um Josh. Ihren Sohn. Es geht um das Verhältnis, genau
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