Die Letzte Spur
etwas? Es war noch nicht einmal zwölf Uhr. Wahrscheinlich würde es noch dauern, bis Cedric und sein Vater hier auftauchten. Wenn sie das überhaupt taten und nicht kurzerhand die Polizei schickten. Aber die wäre dann schon längst da, oder?
In den letzten beiden Tagen sah sie ständig Pit Wavers vor sich. Und zwar nicht den starken, krummbeinigen, brutalen Pit, der sie jahrelang in Todesangst versetzt hatte, sondern den Pit, der reglos auf einem Waldweg irgendwo in der Gegend von Cannington in Somerset lag. Mit einem Loch in der Brust. Und mit geschlossenen Augen.
Sie hatte sich über ihn gebeugt und kaum geatmet vor Angst. Wenn er sich verstellte? Wenn er plötzlich emporschoss, mit seiner eisernen Faust ihr Handgelenk umklammerte? Ihr die andere Faust in den Magen schlug, so wie er es früher oft getan hatte? Er war zu Boden gegangen, nachdem sie den Schuss abgefeuert hatte, das hatte sie noch gesehen, ehe sich in Sekundenschnelle ihre Windschutzscheibe in ein gigantisches Spinnennetz verwandelt hatte. Aber ob er getroffen war, hätte sie nicht zu sagen gewusst. Er konnte sich genauso gut geduckt haben.
Sie hatte weitere sinnlose Schüsse auf ihr längst unsichtbar gewordenes Ziel abzufeuern versucht, aber die Pistole war leer gewesen, und irgendwann hatte sie aufgegeben. Sie war einfach sitzen geblieben. Regungslos. Buchstäblich erstarrt vor Angst. Gewärtig, dass er jeden Moment neben ihr an der Tür auftauchen konnte. Dass sie in seine kleinen, grausamen Augen blicken würde. Seine Augen hatten immer alles über ihn verraten. Sie hatte einmal in einer Zeitung gelesen, einen Psychopathen zeichne das vollkommene Fehlen jedweden Gefühls aus, das Nichtvorhandensein jeglicher Empathie, die ihn zu Mitgefühl und zur Rücksicht auf andere befähigen würde. Da hatte sie gewusst, dass sie es bei Pit mit einer hochgradig gestörten Persönlichkeit zu tun hatte. Ihre Verzweiflung war ins Unermessliche gestiegen.
Irgendwann hatte sie begriffen, dass sie nicht ewig auf dem Fahrersitz verharren und auf die kaputte Windschutzscheibe starren konnte. Cedric neben ihr hatte offensichtlich das Bewusstsein verloren. Sein Atem ging schleppend und unregelmäßig. Er brauchte einen Arzt, so viel war klar, und er brauchte ihn schnell.
Sie war schließlich ausgestiegen. Bis jetzt erinnerte sie sich an diesen Moment voller Grauen. Irgendwie hatte sie plötzlich die fixe Idee gehabt, er könne lauernd direkt neben dem Auto warten und nach ihrem Knöchel greifen. Sie hielt noch immer die Waffe in der Hand, auch wenn das sinnlos war. Den einen, einzigen Schuss hatte sie abgegeben.
Es war dunkel gewesen, aber ihre Augen hatten sich einigermaßen an die Nacht gewöhnt. Sie war um das Auto herumgeschlichen und dann fast über Pits Körper gestolpert, der genau an der Stelle lag, an der er zu Boden gegangen war. Sie hatte ihn angestarrt, ihr eigenes Blut in den Ohren pochen gehört und darauf gewartet, dass irgendetwas passierte, ohne zu wissen, was das sein sollte.
Es war wieder der Gedanke an Cedric gewesen, der sie schließlich vorwärtsgetrieben hatte. Wenn sie noch länger hier stand, war er tot, ehe sie den nächsten Schritt tat. Sie hatte sich hinuntergebeugt, hatte gelauscht und gespäht. Sie konnte nicht feststellen, ob Pit lebte oder tot war, ob er atmete oder nicht. Schließlich überwand sie sich und legte eine Hand auf seine linke Brust, meinte, einen schwachen Herzschlag zu spüren. Es hätte aber auch das Zittern ihrer eigenen Hand sein können, das vermochte sie nicht sicher zu sagen. Als sie die Hand wegnahm, war diese nass und klebrig gewesen, und nach einem Moment des Staunens wurde ihr klar, dass es Blut war.
Ich habe dein Herz erwischt, Fit. Sieh mal an, die kleine Pam, das Stück Scheiße, wie du mich so oft genannt hast, sie ist hingegangen, hat gezielt und geschossen und ins Schwarze getroffen. Nicht schlecht. Das hättest du im Leben nicht erwartet, stimmt's?
Nein, das hätte er nicht für möglich gehalten. Noch zwei Stunden zuvor, in dem hässlichen Ferienapartment, hatte sie ihm kaum Angst eingeflößt, als sie plötzlich die Waffe auf ihn gerichtet hatte. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie jedoch selbst nicht geglaubt, dass sie es tun könnte. Deswegen hatte sie so sehr gezittert. Und war so erleichtert gewesen, als Cedric die Pistole an sich genommen hatte.
Eine Woge der Euphorie hatte sie überschwemmt, aber sie hatte deutlich gespürt, dass nicht echte Erleichterung sie erfüllte, sondern dass ihre
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