Die Letzte Spur
…«
Jacqueline lachte. »Können Sie sich das nicht denken? Fast jeden Abend, wenn Marc wieder einmal nicht nach Hause kam, obwohl er es mir versprochen hatte, wachte Josh von meinem Weinen auf. Er kam dann herüber in unser Schlafzimmer, wo ich allein in dem großen, leeren Bett lag und mir die Augen ausweinte. Ist Daddy noch immer nicht da? , fragte er dann, und ich sagte, nein, Daddy arbeite noch, es würde wieder spät werden. Wein doch nicht, Mummy , sagte er dann und kroch zu mir unter die Decke, umarmte mich ganz fest und drückte sein Gesicht gegen meine nassen Wangen. Am Anfang glaubte er wohl noch, dass Daddy wirklich immer so viel arbeitete und dass ich einfach nur weinte, weil ich allein war. Aber er wurde älter, Marcs und meine Auseinandersetzungen wurden heftiger, Josh schnappte immer mehr davon auf und kapierte schließlich, worum es ging. Daddy arbeitete nicht, Daddy lag mit anderen Frauen im Bett, und Mummy litt ganz furchtbar darunter. Verstehen Sie, dass unter diesen Umständen ein Sohn anfangen kann, seinen Vater zu hassen?«
Rosanna antwortete nicht, sondern stellte ihrerseits eine Frage: »Dass Marc wirklich nur gearbeitet hat – das ist nicht vorstellbar? Mir gegenüber hat er erklärt, ein schrecklicher Workaholic gewesen zu sein. Ihm ist durchaus bewusst, dass er darüber seine Familie vernachlässigt hat, und er bereut das sehr.«
»Wissen Sie«, sagte Jacqueline, »wenn ich im Begriff wäre, eine neue Beziehung einzugehen, würde ich dem neuen Partner auch nicht als Erstes erklären, dass meine Ehe an meinen Seitensprüngen gescheitert ist. Klar, Marc war außerdem ein Workaholic. Krankhaft ehrgeizig. Mit seinem Job mehr verheiratet als mit mir. Das war das andere Problem, neben dem Fremdgehen. Er versetzte uns ständig. Egal, was wir als Familie zusammen geplant hatten, im Sommer mal übers Wochenende ans Meer zu fahren oder ins Kino zu gehen, oder einen Fahrradausflug zu machen, ich konnte in neun von zehn Fällen sicher sein, am Ende allein mit Josh loszuziehen. Von Marc kam garantiert im letzten Moment ein Anruf, es sei etwas furchtbar Wichtiges dazwischengekommen. Darauf konnte ich schon wetten. Und Sie würden nicht glauben, wie bitterlich ein kleiner Junge weinen kann, wenn ihm so etwas wieder und wieder geschieht.«
»Und Sie meinen, er hat in den meisten Fällen …«
»… irgendeine Blondine gebumst, statt zu arbeiten? Ich denke, es hält sich die Waage. Die Kanzlei, in der er arbeitete, laugte ihre Mitarbeiter tatsächlich bis aufs Blut aus, und man schien der Ansicht zu sein, ein freier Samstagabend sei für einen dort assoziierten Mitarbeiter geradezu etwas Unanständiges. Ich weiß nicht, wie oft ich ihn anflehte, von da wegzugehen, aber er meinte, er habe das ideale Sprungbrett zur großen Karriere gefunden. Es war dann übrigens ganz interessant zu sehen, wie sie ihn wie eine heiße Kartoffel fallen ließen, als er wegen der Dawson in die Schlagzeilen geriet. Jahrelang hatte er sich für das Büro den Arsch aufgerissen und sein Familienleben geopfert, und nun konnten sie ihn nicht schnell genug loswerden. Aber«, sie zuckte mit den Schultern, »das war ja dann schon nicht mehr meine Sache.«
Rosanna beschloss, den Stier bei den Hörnern zu packen, auch auf die Gefahr hin, dass Jacqueline sie im nächsten Moment hinauswerfen würde. »Marc hat mir erzählt, dass Sie ihm etliche Affären unterstellten«, sagte sie, »aber er behauptet, dies sei eine Art … fixe Idee von Ihnen. Er sei viel zu sehr im Stress gewesen, um fremdzugehen. Er schwört, er habe Sie nicht ein einziges Mal betrogen.«
Jacqueline lachte. »Eine fixe Idee? So würde ich das an seiner Stelle auch nennen. Und es ist noch nett formuliert. Mir warf er ständig vor, nervenkrank zu sein. Wissen Sie, es gab eine schwierige Phase, in der ich meine dahinsiechende Mutter zu betreuen versuchte. Sie war in einem Altenheim in der Gegend von Cambridge, und ich fuhr ständig dorthin, um ihr ein Gefühl von Nähe und Wärme zu geben. Ihre Leiden mitanzusehen, war schrecklich und hat mich ungeheuer deprimiert. Ich habe viel geweint in dieser Zeit. Ich war sehr traurig – aber keineswegs nervlich zerrüttet. Ich habe nicht angefangen, mir Dinge einzubilden, und das ist es ja, was mir mein Exmann unterstellt. Ich hatte durchaus noch einen klaren Blick für das, was um mich herum geschah.«
Hatte sie den tatsächlich gehabt? Rosanna mochte nicht in ein Klischeedenken verfallen, und sie wusste auch, dass ihre
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