Die Letzte Spur
ihn auch nicht wissen, dass sie schießen konnte wie ein Profi. Irgendwie hatte sie die Ahnung, es könnte sich noch einmal als vorteilhaft erweisen, einen ihm unbekannten Vorsprung zu haben.
Nachdem Pit angefangen hatte, sie zunehmend wie Dreck zu behandeln und zu schikanieren, nachdem er regelmäßig gewalttätig wurde und sie nur noch in Angst vor ihm lebte, hatte sie begonnen, von der Pistole zu träumen. Nicht nachts, sondern tagsüber. Das Bild, wie sie ihrem Peiniger den Lauf ins Gesicht hielt, abdrückte und die grinsende, grausame Visage zerfetzte, wurde zu ihrem Fluchtpunkt. Sie malte sich diese Szene aus, während seine Fäuste in ihren Magen krachten, während er sie so brutal vögelte, dass sie vor Schmerzen schrie, während er sie an den Haaren durch die Wohnung zerrte, um ihr an irgendeiner Stelle einen Fleck zu zeigen, den sie beim Saubermachen vergessen hatte. Sie brauchte diese innere Flucht, um nicht völlig zu verzweifeln, sich aus dem Fenster zu stürzen oder sich die Pulsadern aufzuschneiden. In düsteren Momenten begriff sie zwar, dass sie nie den Mut aufbrächte, es wirklich zu tun. Sie würde nie hinter der Tür stehen, auf ihn warten und ihn beim Hereinkommen einfach abknallen. Aber auch ein Traum vermochte Kraft zu verleihen, das hatte sie damals festgestellt. Als sie sich zur Flucht entschloss, spielte sie mit dem Gedanken, die Waffe mitzunehmen, um nicht ganz schutzlos zu sein, aber zwei Wochen, bevor sie den entscheidenden Schritt tat, war die Pistole plötzlich aus dem Schuhschrank verschwunden gewesen. Offenbar hielt Pit das Versteck nicht mehr für sicher. Es war ihr nicht mehr gelungen herauszufinden, wo er die Waffe danach deponiert hatte.
Und nun habe ich es getan, dachte sie, und bei all dem Elend, in dem sie sich befand, ging doch ein kleiner Schauer der Erregung durch ihren Körper. Nach so vielen Jahren war ihr Traum nun wahr geworden. Sie hatte Pit erledigt. Wenn sie jetzt nicht im Knast landete, bedeutete dies, dass sie zum ersten Mal seit langer Zeit wirklich frei sein würde.
Wieder ein Blick zu der kitschigen Uhr. Fünf Minuten waren vergangen.
Hatte es Sinn, auf Cedric und seinen Vater zu warten? Vielleicht holte der Vater sofort die Polizei. Aber wohin sollte sie gehen? Sie hatte kaum Geld, sie hatte keine Papiere, sie besaß nicht mal Wäsche zum Wechseln. Und vermutlich dauerte es nicht mehr lange, bis ein Haftbefehl gegen sie lief.
»Vertrau mir«, hatte Cedric am Abend zuvor gesagt, ehe sie Abschied nahmen, »bitte! Du allein kannst deine Lage jetzt nur noch verschlechtern!«
Vertrau mir!
Sie setzte sich auf das Bett und stützte den Kopf in die Hände. Wenn sie eines im Leben kapiert hatte, dann war es die Unmöglichkeit, einem Mann vertrauen zu können, und alles in ihr wehrte sich dagegen, ihr weiteres Schicksal auch nur ansatzweise in Cedrics Hände zu legen.
Sie hasste das Gefühl, keine Wahl zu haben. Weitere fünf Minuten später hatte sie ihre Fingernägel bis aufs Fleisch abgekaut und sich selbst ein Zeitlimit gesetzt: Sie würde noch eine halbe Stunde warten. Wären Cedric und sein Daddy dann nicht bei ihr aufgetaucht, würde sie auf Nimmerwiedersehen verschwinden.
Der Nebel schien wieder dichter zu werden, anstatt sich, wie es sonst meist der Fall war, zum Mittag hin aufzulösen. Grau und undurchdringlich wogte er jenseits des kleinen Fensters. In der Küche war es wunderbar warm. Jacqueline hatte die zweite Kanne Tee gekocht, Zucker auf den Tisch gestellt. Sie rauchte eine Zigarette nach der anderen.
»Es hat ziemlich lang gedauert, bis ich begriff, dass Marc ein notorischer Fremdgeher war. Vielleicht hat es auch eine Weile gedauert, bis er damit anfing. Am Anfang mögen ihn seine Gefühle für mich noch gebremst haben. Aber später … wurde er hemmungslos. Das Schlimme war, er musste gar nicht mal aktiv werden. Die Frauen werfen sich ihm an den Hals. Es ist nicht nur sein Aussehen. Es ist auch seine Art. Dieses zurückhaltende, ernste Wesen, sein höfliches Benehmen, diese distanzierte Freundlichkeit … Vielleicht ist es nicht verwunderlich, dass ein Mann schwach wird, dem es so leicht gemacht wird.«
Rosanna nippte an ihrem Tee. Er war heiß, sie verbrannte sich die Lippen. Mit einem leisen Schmerzenslaut setzte sie die Tasse ab.
Jacqueline hatte die Situation missverstanden. »Ja, das hört sich unangenehm für Sie an«, sagte sie, »aber Sie wollten über ihn Bescheid wissen.«
»Ich wollte wissen, weshalb sein Sohn
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