Die Letzte Spur
glaube, das nimmt wirklich niemand mehr an«, widersprach Rosanna sofort. »Du hast sie …«
»Ich habe sie in die District Line gesetzt, und dann fuhr sie los, und mehr weiß ich nicht. Kann stimmen oder auch nicht.«
»Du hast ihr erklärt, dass sie umsteigen muss?«
»Klar. South Ealing. Piccadilly Line. Vielleicht hat sie das vermasselt. Ist dort in die falsche Bahn gestiegen und ganz woanders gelandet. Wir werden das wahrscheinlich nie herausfinden, Rosanna. Und weißt du, was?« Er schob seinen noch halbvollen Teller zurück und stand auf. »Es macht mich langsam verrückt, ständig darüber nachzudenken, was geschehen ist. Es ist so sinnlos. Wir kommen nicht dahinter. Ich wünschte, wir könnten das alles endlich abhaken und vergessen.«
Sie hatten dann nicht mehr darüber gesprochen, aber Rosanna hatte auch nicht gewagt, Marc von ihrem Besuch bei Jacqueline zu erzählen. Die Stimmung war ohnehin getrübt, weshalb sollte sie sie völlig verderben. Sie sahen sich zusammen eine Talkshow im Fernsehen an und tranken den Wein aus, und Rosanna spürte, dass ihr Hals zu kratzen begann und ihre Augen brannten. Nun hatte sie sich auch noch eine Erkältung eingefangen. Es war genau das, was sie jetzt gebrauchen konnte.
Als sie im Bett lagen, nahmen ihre Halsschmerzen zu. Und das Gedankenkarussell setzte sich in Bewegung. Sie lauschte auf Marcs gleichmäßige Atemzüge, während sie sich mit Bildern quälte, die vor ihren Augen entstanden. Marc, der mit attraktiven, jungen Frauen durch London zog. Sie selbst daheim wartend, sich sorgend, langsam zerfressen von Eifersucht. Marc, der irgendwann nach Hause kam, nach fremdem Parfüm roch und fadenscheinige Erklärungen von sich gab. Sie konnte die Frustration spüren, die sich in ihr Leben schleichen würde, konnte ahnen, wie quälend es sein musste, sich ständig mit der Frage herumzuschlagen, ob er log oder nicht.
Sie stand schließlich auf, huschte leise ins Wohnzimmer hinüber, schloss die Tür zum Schlafzimmer hinter sich. Sie knipste das Licht in der Küchenecke an, nahm sich ein Glas aus dem Schrank, füllte es mit kaltem Wasser. Die Kälte tat ihrem wunden Hals gut. Das Glas in der Hand, wanderte sie langsam im Zimmer herum. Sie musste zur Ruhe kommen. Sie durfte sich den vielen Bildern, die sie bestürmten, nicht ausliefern. Nächtliches Wachliegen heizte die Fantasie an, man sah Gespenster, die sich am Tag in Luft auflösten.
Marc hatte längst allem widersprochen, was seine Ex-frau gegen ihn vorbrachte. Er hatte sie als krankhaft eifersüchtig beschrieben, als einen Menschen, der sich in diesem Punkt praktisch in einen Wahn hineingesteigert hatte. Er hatte keineswegs versucht, sich als idealen Ehemann, tollen Vater und fürsorgliches Familienoberhaupt darzustellen. Er hatte alle seine Fehler eingeräumt, war dabei durchaus schonungslos mit sich umgegangen. Aber er hatte es von sich gewiesen, seine Frau betrogen zu haben. Weshalb sollte sie Jacqueline eher glauben als ihm?
Wenn ich in Begriff wäre, eine neue Beziehung einzugehen, würde ich meinem neuen Bartner auch nicht als Erstes erklären, dass meine Ehe an meinen Seitensprüngen gescheitert ist , hatte Jacqueline gesagt. Klar, da hatte sie recht. Trotzdem musste es nicht so sein, wie sie sagte. Es konnte auch so sein, wie Marc es darstellte.
Rosanna drückte ihre heiße Stirn gegen die kühle Fensterscheibe. Es war wie bei der Sache mit Elaine und Pamela. Es konnte so sein, wie Pamela sagte. Es konnte auch ganz anders sein. Alles verschwamm im Nichtwissen. Es war wie da draußen auf der Strasse: Nebel. Einfach nur Nebel.
Der Gedanke an Pamela erinnerte sie daran, dass es etwas in ihrer Schilderung gab, was in ihr einen Impuls ausgelöst hatte. Als Cedric sein Gespräch mit Pamela wiedergegeben hatte, hatte es an irgendeiner Stelle Klick gemacht.
Wann, zum Teufel, und warum nur?
Sie trank das Glas aus. Das Halsweh setzte ihr zu, und nun schien sie auch noch Fieber zu bekommen. Zweifellos eine gute Voraussetzung, sämtliche Ungereimtheiten zu lösen. Wenn sie das überhaupt tun musste.
Warum lasse ich es nicht einfach, dachte sie, lasse das Rätsel um Elaines Verschwinden, wie es ist? Lasse die Zukunft mit Marc einfach auf mich zukommen? Warum höre ich nicht einfach damit auf, all die verworrenen Geschichten um mich herum unbedingt aufklären zu wollen?
Aus schmerzenden Augen blickte sie auf Jacqueline Reeves Aquarell an der Wand, blickte hindurch, ohne es wirklich wahrzunehmen. Ein
Weitere Kostenlose Bücher